Geistig behinderter Kevin wird straffällig, weil Mutter in Schwangerschaft trank: Haftstrafe oder Gnade?
Leipzig/Chemnitz - Greifen werdende Mütter in der Schwangerschaft zu Alkohol, kann das für die ungeborenen Kinder schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben. Statistisch gesehen begehen sie, wenn sie erwachsen sind, häufiger Straftaten als andere Menschen. Der Frage, ob sie in gleichem Maße dafür bestraft werden können, geht die MDR-Sendung "Kripo Live" auf den Grund.
Der Chemnitzer Kevin Müller, der vermutlich anders heißt und nicht erkannt werden möchte, leidet am Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) – eine hirnorganische Schädigung, die ausgelöst wurde, weil seine Mutter Alkohol konsumiert hat, während sie mit ihm schwanger war.
Die Folge: Der junge Mann ist mit knapp 1,60 Meter Körpergröße eher klein und tat sich schon seit seiner Kindheit schwer mit dem Lernen. "Um Sachen zu verstehen, brauche ich wirklich zwei drei Anläufe länger als normale Leute", gibt er gegenüber "Kripo Live" zu. Er könne sich nie lange auf etwas konzentrieren.
Wie ihm geht es vielen Menschen mit dieser Diagnose: Die häufigsten Symptome sind Wachstumsstörungen, kognitive Defizite, Verhaltensauffälligkeiten wie beispielsweise der Mangel an Empathie oder Impulskontrollstörungen.
Häufig kommen sie nicht wirklich zurecht in ihrem Leben, sind leicht beeinflussbar und begehen öfter Straftaten als gesunde Menschen.
In den meisten Fällen handelt es sich um kleinere Delikte wie Diebstahl oder Schwarzfahren – auch bei Kevin. Doch auch räuberische Erpressung steht bereits in seiner 16 Einträge umfassenden Strafakte.
Vor einigen Jahren bedrohte er einen 14 Jahre alten Schüler mit einem Messer und nahm ihm Geld, ein Handy und eine Spielekonsole ab. Letztere verkauften er an seine Kumpels, um sich davon neues Bier kaufen zu können. Kevin saß für dieses Vergehen acht Monate im Gefängnis.
Kripo Live: 60 Prozent der Menschen mit FAS werden straffällig
Doch schon kurz nach seiner Entlassung stand der Chemnitzer erneut vor Gericht – wegen Betrugs in 55 Fällen. Die Richterin in diesem Fall merkte schließlich, dass mit ihm etwas nicht stimmte und veranlasste eine psychiatrische Untersuchung. Diese ergab, dass er an der häufigsten angeborenen geistigen Behinderung in Deutschland leidet.
Experten zufolge werden etwa 60 Prozent der Menschen mit der Diagnose FAS straffällig, 30 Prozent davon sehen ein Gefängnis mindestens einmal in ihrem Leben von innen. Ihnen fällt es schwer, sich an Regeln zu halten.
Doch Gutachtern zufolge können sie für ihre Taten eigentlich nicht komplett verantwortlich gemacht werden. Laut Sozialpsychiaterin Annemarie Jost mangele es an Aufklärung innerhalb der Justiz.
Das Problem liege auch darin, dass zu Haftstrafen Verurteilte oft keine Therapie erhalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach ihrer Freilassung wieder straffällig werden, ist dementsprechend hoch.
So auch bei Kevin, der vom Verständnis der Richterin profitierte und trotz Betruges in 55 Fällen Bewährung bekam. Sich aus seinem offenbar schwierigen Umfeld zu lösen, gelang ihm der Sendung zufolge nicht.
"Wenn die Menschen trotzdem straffällig werden, dann braucht es spezielle Einrichtungen für Menschen, die derartige Beeinträchtigungen haben", so Jost. Mehr Aufklärung in Justiz und Medizin wäre da zumindest ein Anfang.
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