"Kiez knallhart: Berlin-Neukölln": Ein Bezirk unter dem Brennglas
Berlin - Clan-Kriminalität, Corona-Hotspot, Hipster-Hochburg: Neukölln gibt immer wieder Anlass zur öffentlichen Erregung und ist als Berliner Problembezirk verschrien. Doch wie sieht das Leben der Menschen im sozialen Brennpunkt wirklich aus? Was treibt sie um? RTLZWEI zeigt mit "Kiez knallhart: Berlin-Neukölln" eine neue Sozial-Dokureihe und stellt die Bewohner des berühmt-berüchtigten Stadtteils vor. Kiez-Alltag zwischen Armut und Gewalt.
Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (35, SPD) kämpft seit 2018 mit der Polizei gegen die organisierte Kriminalität der Clan-Familien.
Leicht sei dies nicht, da es sich "um abgeschottete Parallelstrukturen" handle, die "sich über viele Jahrzehnte herangebildet" hätten, schildert der SPD-Politiker die Problematik.
Die Schwierigkeit sehe der frühere Mathematiklehrer an der John-F.-Kennedy-School im betuchten Berlin-Zehlendorf in der Frühprägung der Clan-Sprösslinge: "Es wird von Kind an beigebracht, dass die Familie das höchste Gut ist und dementsprechend fügt man sich auch einer Familie."
Den Auftakt in Folge eins macht Rimon.
"Auf der Sonnenallee wird als erstes Arabisch gesprochen, bevor Deutsch gesprochen wird", erläutert der 35-Jährige. Der Türsteher gibt Neukölln die Schuld, dass er auf die schiefe Bahn geriet. Weil seine Kindheit unglücklich verlief, habe er sich "in die Rolle" hineinversetzt.
Die Rolle, das ist für viele junge Menschen ohne Perspektive der Gangster-Habitus. Rimons ägyptischer Vater verließ die Familie, als er noch klein war. Umzug nach Neukölln. Da war Rimon elf. Nach seinem Schulabschluss wollte er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann absolvieren und als Rapper durchstarten. Beides ist nicht gelungen.
Heute hat der 35-Jährige drei Söhne von drei Müttern, zu den Mittleren besteht Kontaktverbot. Für seine Kinder will er sich zusammenreißen und überlegt sich zweimal, ob er "zu einem Bruch geht" oder "jemanden zusammenschlägt". Doch weil er auf zwei Polizisten bei einer Personenkontrolle am Hermannplatz losging, drohte ihm der Knast und ein Entzug des Besuchsrechts.
Rimon hat vor Gericht Glück. 100 Tagessätze zu 15 Euro, entschied die Richterin in Abwesenheit des Hartz-IV-Empfängers. Dieser hatte sich spontan vor dem Justiz-Termin krankgemeldet.
Große Gefühle in Neukölln bei Oktay Özdemir und seiner Anna
Oktay Özdemir (35) war einst ein gefeierter Star, bediente in Filmen das entsprechende Klischee des gewaltbereiten Kleinkriminellen.
Mit der cineastischen Milieustudie "Knallhart" und dem Migrationsdrama "Wut" kam 2006 über Nacht der Erfolg - und es kamen die Drogen. Özedemir stürzte ab, lernte Anne über Facebook kennen.
Die damals 18-Jährige lebte im Frauenhaus, brach ihre Ausbildung ab. Das Paar teilte damals die Liebe für Kokain, heute sind die beiden clean – und erwarten Nachwuchs.
"Der Sohn ist geplant, kein Unfall", beteuert Özedemir, dessen Verlobte zum Zeitpunkt der Dreharbeiten im siebten Monat schwanger ist. Es wird ein Junge. Can soll er heißen. Wie der Jugendliche Anführer der Straßengang, den Özdemir in "Wut" mimte.
Ob Zufall oder nicht? Ist offen.
Nach einem halben Jahr in Köln bei Freunden zieht es die beiden Deutsch-Türken nun zurück in ihre alte Heimat, wo alles begann – und wieder neu beginnen soll.
Noch fehlt aber eine Wohnung in Neukölln. Auch ein Job ist nicht in Sicht. Wegen seiner Drogen-Vergangenheit erhält Özdemir seit 2017 keine Angebote für Rollen mehr. Daher muss das künftige Ehepaar mit Hartz IV auskommen.
Erst einmal kommen die beiden bei Özdemirs Großeltern aus der Türkei unter, die seit fünfzig Jahren in Neukölln leben. Zu viert müssen sie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung auf 48 Quadratmetern das Beste aus der Situation machen.
Hassan ist Familienmitglied eines arabischen Clans
Hassan ist mit einem aufgemotzten BMW in den Straßen Neuköllns unterwegs. Der 30-Jährige wuchs in Neukölln auf und ist Familienmitglied des größten arabischen Clans Deutschlands, den Chahrours.
"Hier treffen sehr viele Mentalitäten aufeinander. Da gibt es ab und zu eine Schlägerei oder eine Auseinandersetzung", erklärt Hassan, dem es gelang, sich aus den kriminellen Machenschaften der Familien herauszuhalten. Dennoch ermittelten Polizei und Staatsanwaltschaft gegen ihn.
Hassan ist nicht vorbestraft, hält sich aus Streitereien raus – und das aus gutem Grund: "Ich raste nie raus. Wenn ich einmal im Jahr ausraste, dann ist bei mir Blutrausch, das endet dann nicht gut."
Sirenen gehören in Neukölln zum Alltag, sind Soundtrack auf der "Straße der Araber", wie Menschen mit Migrationsgeschichte den 650 Meter langen Abschnitt der Sonnenallee selbst nennen.
Chaotischen Szenen voller Gewalt auf offener Straße? In Neukölln ein Stück Normalität.
"Der Respekt sinkt", stellt Hassan fest. Den Grund will er auch kennen. "Es kamen sehr viele Flüchtlinge nach Berlin und denen ist egal, was früher war. Da muss man echt kämpfen den Respekt aufzubauen."
Wegen seines Nachnamens wird Hassan mit Vorurteilen konfrontiert. All sein Geld steckte er in eine Sicherheitsfirma, doch damit ging er baden. Der Staatsschutz habe Hassans Kunden postalisch vor einer Zusammenarbeit gewarnt. "Das ist doch kriminell, das ist doch Diskriminierung im höchsten Maße", empört sich der Security-Fachmann mit erhobenem Zeigefinger.
Der gebürtige Berliner und Sohn libanesischer Flüchtlinge hat keine Ausbildung, hält sich als Kleindarsteller über Wasser, lebt vom Ersparten. Auf den Staat will er niemals angewiesen sein.
Bulette gegen Zigarette? Kneipenwirt Andreas Jaeche kämpft für seine "Rixdorfer Bierstube"
Neukölln ist im Wandel und entwickelt sich seit Jahren zum hippen Szene-Viertel. Die damals günstigen Mieten zogen verstärkt Menschen aus der Kunst- und Kulturbranche an. Verdrängung prägt das Bild des internationalen Bezirkes.
Das merkt auch Andreas Jaeche. Der 54-Jährige betreibt seit fünf Jahren die Rixdorfer Bierstuben.
"Das ist mein Herzblut, ich hänge an dem Laden", betont der 54-Jährige der alles tut, um mehr Leute in seine Kneipe zu locken. Leute, die sonst nicht kommen würden.
Auf Kundschaft aus den Teestuben könne er nicht zählen, weil sich die Leute "abkapseln", dafür würden "immer mehr deutsche Kneipen schließen", so der 54-Jährige, der nach eigener Aussage einen Ausweg aus der Misere gefunden habe.
"Ohne Veranstaltungen kannst du nicht mehr überleben. Du musst viele Sachen machen", sagt Jaeche weiter.
Diese sollen den Fortbestand des Lokals sichern. Daher gibt es neben Karaoke-Abenden jetzt kleine Speisen in der Kneipe wie Buletten, dafür nur noch einen kleinen Raucherbereich.
Die vier Folgen von "Kiez knallhart" läuft jeweils donnerstags ab 20.15 Uhr auf RTLZWEI oder auf Abruf bei TVNOW.
Titelfoto: RTLZWEI