Ismet Tekin fand beim Anschlag in Halle ermordeten Kevin S.: "Der schrecklichste, schlimmste Tag meines Lebens"
Halle (Saale) - Fünf Jahre ist der rechtsextreme Anschlag von Halle her - der 9. Oktober 2019 hat das Leben vieler Menschen für immer verändert. Einer von ihnen ist Ismet Tekin. Der Überlebende fand den vom Attentäter ermordeten Kevin S. (†20) an jenem Tag.
"Ich komme aus der Türkei, ich lebe seit über 15 Jahren hier in Deutschland, auch in Halle. Halle ist wie meine Heimatstadt, ich habe mich hier sehr wohlgefühlt, alles war sehr schön, sehr multikulti und ich habe nie im Leben gedacht, dass in Halle so etwas passiert - bis zum Anschlagstag", erzählt Tekin in der MDR-Doku "Das Trauma - Wir haben den Anschlag überlebt".
Der Anschlagstag, an dem der schwer bewaffnete Attentäter die Synagoge stürmen wollte, einen Döner-Imbiss angriff, zwei Menschen tötete, weitere Menschen verletzte und traumatisierte.
Maler-Gehilfe Kevin S. war an diesem Schreckenstag in seiner Mittagspause zum Essen beim Kiez-Döner - Tekin arbeitete dort, war gerade aufgebrochen.
"Während ich so 800, 900 Meter gegangen bin, ruft mein Bruder an, hier ist ein Anschlag passiert", erinnert er sich. "Ich bin so Augen blind gerannt."
Auf dem Weg zurück suchte er hinter Autos vor dem Schusswechsel zwischen Attentäter und Polizei Schutz - und schaffte es wieder in das Geschäft.
"Ich bin reingekommen, habe gerufen, ob jemand noch da ist", berichtet Tekin weiter. Er habe niemanden gesehen, nach draußen gewollt, um eine Zigarette zu rauchen - doch in dem Moment habe er hinter einem Kühlschrank Kevin S. entdeckt. "Es war leider zu spät, dann habe ich den Notruf angerufen, ich konnte nicht reden, das war der schrecklichste, schlimmste Tag meines Lebens."
Tekin: "Ich muss weiterkämpfen"
Danach war nichts mehr wie vorher: "Dein Leben dreht sich 100 Prozent andersrum, was früher war, hat sich alles ausgelöscht, die Träume, die Ideen, die Hobbys, die Kraft, alles."
Und auch die Kunden des Kiez-Döners blieben aus - nach mehreren Versuchen wurde schließlich das Geschäft aufgegegeben. Doch die Erinnerung an Kevin L. und die auf der Straße erschossene Jana L. (†40) sollte bleiben. Mithilfe von Spenden, der Soligruppe 9. Oktober und der mobilen Opferberatung wurde aus dem Kiez-Döner das Tekiez in Trägerschaft des Friedenskreises Halle.
"Jetzt ist es ein Gedenkort, Erinnerungsort, Treffpunkt, Veranstaltungsort, Bildungsraum, der schönste Raum in Deutschland, jedes Stück, jede Ecke hat eine Bedeutung", erklärt Tekin über das Tekiez. Für ihn steht fest: "Ich muss weiterkämpfen für eine schöne Zukunft, für die Gesellschaft, für unsere Kinder, für unser Land."
Bis zum kommenden Jahr werde das Tekiez vom Bund gefördert, was danach passiere, sei noch unklar. Die komplette Dokumentation könnt Ihr in der Mediathek streamen.
Titelfoto: Montage: Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/dpa; Ronny Hartmann/AFP Pool/dpa