Aktivistin Dagmar Reemtsma ist frustriert: Niemand will auf die "Droge Wohlstand" verzichten

Hamburg – Das politische Erbe der Anti-Atomenergie-Bewegung steckt in der Klimabewegung. Viele junge Aktivisten besuchten mit Familienangehörigen schon in frühen Jahren Demos und formten dadurch ihre eigenen Überzeugungen. Ebenso bei den zahlreichen Aktivisten und Wissenschaftlern, die am Freitagabend beim großen Finale von "Lesen ohne Atomstrom" im Centralkomitee in Hamburg-St.Georg aufeinandertrafen. Mit dem Appell: Generationsübergreifendes Handeln ist heutzutage wichtiger als je zuvor.

Umweltaktivist Wladimir Sliwjak (49) erzählte bei "Lesen ohne Atomstrom" von den Gefahren der russischen AKWs.
Umweltaktivist Wladimir Sliwjak (49) erzählte bei "Lesen ohne Atomstrom" von den Gefahren der russischen AKWs.  © Madita Eggers/TAG24

Am 15. April dieses Jahres soll es so weit sein: Mit der Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke soll der Atomausstieg in Deutschland endgültig vollzogen werden. Wofür Aktivisten schon in den 1980er-Jahren gekämpft haben, soll nun endlich Realität werden.

"Es ist das Engagement der Vielen, deren Namen keiner kennt und die jeder und jede einzelne doch so unverzichtbar wichtig für den Erfolg waren", schreibt der russische Umweltaktivist Wladimir Sliwjak (49) im Prolog des neuen "Lesen ohne Atomstrom"-Buchs "Aus!". Am Freitag vorgelesen von Henning Venske (83).

Doch wird der Ausstieg wirklich kommen? Ausgerechnet in den Zeiten des Klimawandels erfährt die Atomenergie durch die Auswirkungen des Ukraine-Krieges wieder mehr Aufwind. Die erzeugte Energie wird als CO2-arm und nachhaltig verkauft.

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"Der Betrieb von Atomanlagen verträgt sich nicht mit Erdbeben, Fluten, Stürmen, Vulkanausbrüchen, Hitze- oder Kältewellen und Waldbränden. Wer die Atomenergie als nachhaltig einstuft, wie es die EU tut, hat beides nicht verstanden: Die Nukleartechnik nicht und den Klimawandel auch nicht", las Venske weiter vor.

Sliwjaks Worte wurden an dem Finalabend aber nicht nur vorgelesen, als Ehrengast sprach der Träger des Alternativen Nobelpreis auch selbst zum Publikum. Tschernobyl 1986 machte ihn zu einem der ersten Anti-Atomenergie-Aktivisten in Russland. Doch besonders rosige Zukunftsaussichten hatte der 49-Jährige, der inzwischen in Deutschland lebt, nicht im Gepäck.

Russland betreibe auch heute noch Reaktoren vom Typ des damaligen Unglück-Reaktors und habe auch keine Pläne, dies zu ändern. Zudem gebe es so gut wie keine Sicherheitsstandards: "Wir sind nicht sicher und wir können unglücklicherweise auch nichts dagegen tun", so Sliwjaks, außer jemand hätte eine Idee, Putins Regime zu stürzen.

Er selbst betreibt aktuelle eine Kampagne, die sich für die Sanktionierung von deutscher Technik einsetzt.

Dagmar Reemtsma: "Widerstand leisten ist heute nicht mehr lebensgefährlich!"

Dagmar Reemtsma (90) und Moderator des Abends Frank Schweiker (60).
Dagmar Reemtsma (90) und Moderator des Abends Frank Schweiker (60).  © Madita Eggers/TAG24

Star-Gast des Abends war neben Wladimir Sliwjak Aktivistin Dagmar Reemtsma, die erst Stunden zuvor ihren 90. Geburtstag und damit auch noch Jahre ohne Atomenergie erlebte. Doch anstatt zu feiern, saß sie neben ihrer Enkelin Carla Reemtsma (24) auf der Bühne und war das beste Beispiel dafür, dass die ältere Generation doch nicht alles falsch gemacht hat. Wie ja immer mal wieder gerne behauptet wird.

Die noch äußerst agile Dame startete direkt mit einer steilen These: "Widerstand leisten ist heute nicht mehr lebensgefährlich. Das ist der riesengroße Unterschied zu früher, dass wir Widerstand leisten können, wo immer wir wollen und wo es angesagt ist."

Sie selbst hat unzählige Male Widerstand geleistet und dennoch zeigte sie sich am Freitag frustriert. Es fehle die Bereitschaft der breiten Masse auf die "Droge Wohlstand" zu verzichten. Es herrsche Gleichgültigkeit und Ignoranz:

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"Ich sehe noch keine Möglichkeit, wie wir da herauskommen!" Sie wünsche sich dieselbe Begeisterung, mit der Fußballfans ins Stadion strömen, auch für den Klimaschutz.

Carla Reemtsma: "Essenzielle Krisen wie den Klimawandel anzugehen, passiert ja auch im Kleinen"

Carla Reemtsma (24) hält das "Atomkraft? Nein, Danke!"-Handtuch hoch, welches sie ihrer Oma Dagmar mit 12 Jahren geschenkt hat. Links sitzt Wissenschaftler Daniel Dahm (54).
Carla Reemtsma (24) hält das "Atomkraft? Nein, Danke!"-Handtuch hoch, welches sie ihrer Oma Dagmar mit 12 Jahren geschenkt hat. Links sitzt Wissenschaftler Daniel Dahm (54).  © Madita Eggers/TAG24

Ihre Enkelin und "Fridays for Future"-Aktivistin gab sich an dem Abend noch etwas optimistischer: "Essenzielle Krisen wie den Klimawandel anzugehen, passiert ja auch im Kleinen. Das kann ein Gespräch sein, das kann die Frage sein, ob ich das Auto oder die Bahn nehme oder mein Vater, der veganes Hack ausprobiert. Es braucht ganz viele solcher Momente, wo Leute zusammen kommen und Veränderung plötzlich möglich ist."

Das habe man gerade erst beim letzten Klimastreik am 3. März gesehen. "Die Klimakrise können wir nur bewältigen, wenn wir auch die Jobs haben, die diese bewältigen können." Das hieße genug Personal im Nahverkehr, in der Pflege und in den Schulen: "All da, wo Zukunft gemacht wird!"

Zudem sei laut Wissenschaftler Daniel Dahm (54) vor allem Leidenschaft nötig. Es brauche Menschen wie zum Beispiel den als Überraschungsgast eingeladenen Weltumsegler Boris Herrmann (41), die auf die Schönheit unseres Planeten aufmerksam macht.

Herrmann befindet sich als Teil des "Ocean Race" aktuell mit seiner Segelyacht "Malizia" auf dem Polarmeer, ließ es sich aber nicht nehmen, eine Videobotschaft ans Publikum zu schicken.

Veranstalter Frank Otto über "Lesen ohne Atomstrom": "Es besteht ein Bedarf an Diskurs!"

Frank Otto (65) und Oliver Neß (55) haben "Lesen ohne Atomstrom" 2011 ins Leben gerufen.
Frank Otto (65) und Oliver Neß (55) haben "Lesen ohne Atomstrom" 2011 ins Leben gerufen.  © Madita Eggers/TAG24

Leidenschaft spielt auch bei Veranstalter Frank Otto (65) vom Verein "Kultur für alle" eine große Rolle. Er und Oliver Neß (55) haben die Lesetage 2011 ins Leben gerufen. "Es besteht ein Bedarf an Diskurs, den solche Veranstaltungen wie unsere vorantreiben können."

Es gehe darum, Begegnungen und Sichtbarkeit herzustellen. "Am Donnerstag hatten wir zum Beispiel die Bürgermeisterin von Lampedusa auf der Bühne, und das ist natürlich etwas ganz anderes, wenn uns jemand authentisch erzählt, wie es dort vor Ort ist, als wenn wir einen Drei-Minuten-Artikel in der Zeitung lesen", sagte Otto gegenüber TAG24.

Was ist sein Résumé der diesjährigen Jubiläumsausgabe von "Lesen ohne Atomstrom"? "Nach Corona war es dieses Mal von den Themen, Diskussionen und der Atmosphäre im Publikum nochmal sehr besonders", erzählte Otto.

"Alle waren so begeistert wieder zusammenzutreffen, diskutieren und sich mit tieferen Themen auseinandersetzten zu können, die bei der all der Oberflächlichkeit heutzutage in den Medien nicht mehr stattfinden."

Titelfoto: Madita Eggers/TAG24

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