Flüchtlingswelle 2.0: Migrations-Forscherin erklärt, was wir dieses Mal besser machen müssen
Chemnitz - Die Chemnitzer Migrations-Forscherin Birgit Glorius (51) von der TU Chemnitz stand TAG24 zum Thema Kriegsflüchtlinge in Deutschland zum Interview zur Verfügung.
Die Massenankunft von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine weckt Erinnerungen an das Jahr 2015.
Fast eine Million Menschen kamen damals als Flüchtlinge und Migranten über die Balkanroute nach Deutschland.
Nun gibt es die Flüchtlingswelle 2.0 und wieder gibt es eine enorme Hilfsbereitschaft. Doch reicht die aus, um diese humanitäre Herausforderung zu meistern?
Im Interview erklärt die Migrations-Forscherin Birgit Glorius (51) von der TU Chemnitz, was dieses Mal besser gemacht werden muss.
Deutschland erlebt eine Massenankunft und die Politik scheint überrascht
TAG24: Frau Prof. Glorius, Sie bezeichnen die Ankunft der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine als die größte humanitäre Herausforderung für Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ist das Land gut darauf vorbereitet?
Birgit Glorius: "Wir erleben in Deutschland eine Massenankunft von Flüchtlingen. Wie 2015 tut die Politik so, als wäre das eine Überraschung. Das erstaunt mich wirklich. Bereits Ende 2014 riefen die Kommunen damals um Hilfe.
Nach dem langen Sommer der Migration 2015 gab es diverse Bund-Länder-Runden, um die Situation bewältigen zu können. Und jetzt? Es scheint, als wären sieben Jahre danach alle diese Erfahrungen vergessen. Die Politik hat versäumt, sich auf solche Notfall-Szenarien vorzubereiten."
TAG24: Ukrainische Flüchtlinge können den Fachkräftemangel in Deutschland beheben, heißt es aktuell in Debatten. Sie hören das gar nicht gern. Warum?
Birgit Glorius: "So diskutierte man schon 2015. Das war eine mediale Strategie von Politikern, die Aufnahmebereitschaft von Flüchtlingen in Deutschland zu steigern. Aus Sicht der Wissenschaft ist es jedoch fatal, Migration nur nach ihrer Nützlichkeit zu bewerten. Solche Debatten schüren Erwartungen und produzieren Enttäuschungen.
Diese Enttäuschungen waren 2015 der Nährboden für das Kippen der Stimmung und die Feindseligkeit gegenüber den Geflüchteten. Ich habe jetzt ein Déjà-vu. Glaubt man wirklich, dass die Frauen, die mit ihren kleinen Kindern geflüchtet sind, sich übermorgen einen Job suchen und die Kinder in die Betreuung geben? Ohne Sprachkenntnisse? Mit all ihren Ängsten? Das ist doch nicht realistisch."
Anti-muslimische Vorurteile und rassistische Ressentiments: "Parteien wie die AfD griffen das auf"
TAG24: Was sollte stattdessen kommuniziert werden?
Birgit Glorius: "Es sollte klar gesagt werden, dass diese Menschen jetzt vor allem Zeit brauchen und wir Geduld haben müssen."
TAG24: Haben Sie Sorgen, dass die ukrainischen Flüchtlinge Ziel von fremdenfeindlichen Angriffen werden könnten, wie es sie nach 2015 gab?
Birgit Glorius: "Unerfüllte Erwartungen haben 2015 dazu geführt, dass anti-muslimische Vorurteile bestätigt und rassistische Ressentiments geschürt werden konnten. Migrationsfeindliche Parteien wie die AfD griffen das auf."
TAG24: Diese Folien taugen nicht für die ukrainischen Flüchtlinge.
Birgit Glorius: "Richtig. Dennoch müssen wir als Gesellschaft darauf eingestellt sein, dass die Stimmung kippt. Es gibt viele Formen von Rassismus. Der aktuelle Hype nährt meine Befürchtung, dass danach ein tiefer Absturz folgen kann. In Ostdeutschland muss dies zudem vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass die Menschen hier eine persönliche Wende-Erfahrung einbringen. Das Gefühl der Zurückweisung, Abwertung der Lebensleistung und der Härte, die man persönlich erlebt hat, schwingt da mit."
Viele Sachsen sind den Migranten gegenüber kritisch eingestellt
TAG24: Was gilt es besser zu machen als 2015?
Birgit Glorius: "Die Politik sollte öffentlich ein Erwartungsmanagement betreiben, ehrlich sein und transparent handeln. In den Medien sollten Erfolge ebenso wie Missstände dargestellt werden und Kritik Raum bekommen. Die parallelen Diskussionen an den digitalen Stammtischen wird es trotzdem geben. Die können wir nicht unterbinden oder einfangen."
TAG24: Muss Sachsen an seiner Willkommenskultur arbeiten?
Birgit Glorius: "Ja. Es gibt zwar viele emphatische Akteure, die toll netzwerken. 2015 hat gezeigt, dass in den Behörden ein gewisser Nachholbedarf herrschte. Das ist Geschichte. Als schwierig ist aber zu bewerten, dass viele Sachsen gegenüber Migration kritisch eingestellt sind. Alltagsrassismus stellt ein großes Problem dar. Wenn wir von Migration und Integration sprechen, müssen wir uns auf gemischte Weltregionen einstellen. Nicht nur auf Ukrainer."
TAG24: Viele afghanische Flüchtlinge durften 2015 nur als Geduldete bleiben. Die ukrainischen Flüchtlinge genießen jetzt von Beginn an einen anderen Status. Sie müssen nicht in Aufnahmeunterkünfte, haben Anspruch auf staatliche Leistungen und dürfen arbeiten. Zudem können sie kostenlos Bus und Bahn fahren, Handynetze nutzen. Beginnt da nicht schon der Rassismus?
Birgit Glorius: "Nicht unmittelbar. Das war eine politische Entscheidung der EU. Es zeigt sich aber ein struktureller Rassismus, der in der Gesellschaft angelegt ist. 2015 landete mancher Flüchtling wegen Fahrens ohne Fahrschein in der Kriminalstatistik, weil er kein Geld für Tickets oder schlicht das System nicht verstanden hatte."
TAG24: Aus welchen Fehlern, die 2015 gemacht wurden, sollte unbedingt gelernt werden?
Birgit Glorius: "Zuerst muss die Kommunikation verbessert werden. Dann die Arbeit mit den Freiwilligen. Diese Ressource ist ein Schatz! Es darf nicht wieder passieren, dass die Behörden Helfer vergraulen und ihnen Steine in den Weg legen. Bei so einer Massenankunft müssen zuerst unbürokratisch Lösungen gefunden werden. Wir brauchen ein Stufensystem ähnlich dem Katastrophen-Management."
TAG24: Die amtliche Registrierung der Neuankömmlinge erweist sich derzeit als Flaschenhals.
Birgit Glorius: "Da rächt es sich, dass Deutschland die digitale Revolution verschlafen hat. Wir haben eine Corona-Warn-App. Warum nicht auch eine Einwohner-Melde-App? An der Registrierung hängt für die Flüchtlinge viel - Zukunft, Geld, Bildung. Deutschland ist spitze beim Austüfteln vom Lösungen. Jetzt ist Out-of-the-box-Denken gefragt."
Keiner weiß, wie viele kommen oder bleiben
Weder Innenministerium noch Landesdirektion können aktuell sagen oder zuverlässig abschätzen, wie viele Ukrainer auf der Flucht sich gegenwärtig in Sachsen aufhalten.
Das liegt daran, dass laut EU-Beschluss Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine ihren Aufenthaltsort frei wählen können. Zu Beginn der vierten Kriegswoche rechnet Innenminister Roland Wöller (51, CDU) für Sachsen mit einer Aufnahme von bis zu 80.000 Geflüchteten. Im Moment konzentriert sich der Flüchtlingsstrom auf Großstädte.
Die Bundesregierung strebt die Verteilung der Schutzsuchenden im ganzen Land nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel an, der orientiert sich an Bevölkerungsgröße und Steueraufkommen. Wer dauerhaft bei Verwandten unterkommt, kann allerdings selbst entscheiden, wo er oder sie bleibt.
Die Kriegsflüchtlinge werden in Deutschland aufgenommen, ohne einen Asylantrag stellen zu müssen. Sie erhalten erst einmal Schutz für ein Jahr und haben Anspruch auf Unterbringung, Kleidung, Nahrungsmittel sowie Gesundheitsleistungen.
Titelfoto: TU Chemnitz/Kay Nietfeld/dpa