Ist das Raubgut? Torah-Fragmente in Görlitz aufgetaucht, jüdische Gruppen fordern Rückgabe
Görlitz - In Görlitz sind vier Fragmente einer Torah-Rolle aufgetaucht. Offenbar wurden sie in der Pogromnacht 1938 heimlich aus der brennenden Synagoge der Stadt geschafft. Wer sie wegbrachte, wo sie seit mehr als 83 Jahre wirklich waren und warum sie nun ausgerechnet an die Stadt Görlitz gegeben wurden, ist unklar. Mit einer diesbezüglich abgegebenen Erklärung gibt sich die Jüdische Gemeinde Görlitz/Zgorzelec und Umgebung, e. V. nicht zufrieden. Ihr Vorsitzender, Alex Jacobowitz (61), spricht von einem Skandal.
Alex Jacobowitz fühlt sich hintergangen: Rein zufällig erfuhr er, dass Teile einer verschollenen Torah-Rolle aus der Görlitzer Synagoge aufgetaucht sind und am vergangenen Donnerstag zurückgegeben wurden. Allerdings nicht an die Gemeinde, die sich als Nachfolger der Jüdischen Synagogengemeinde Görlitz bis 1939 sieht und nicht einmal darüber informiert wurde.
Um sich die Fragmente anzusehen, fuhr Jacobowitz sofort nach Görlitz. Dort hatte Oberbürgermeister Octavian Ursu (53, CDU) für den Nachmittag eingeladen, um den "Schatz" unter anderem in Anwesenheit von Sachsens Ministerpräsident, Michael Kretschmer (46, CDU), zu präsentieren. Nicht auf der Gästeliste standen jüdische Repräsentanten.
Auch die Jüdische Gemeinde zu Dresden und der Sächsische Landesverband waren demnach nicht vorab informiert worden. "Insbesondere die Jüdische Gemeinde zu Dresden hätte als Rechtsnachfolgerin der vernichteten Jüdischen (Vorkriegs-)Gemeinde Görlitz zumindest in Kenntnis gesetzt und in die Überlegungen zum Umgang mit dem Fund einbezogen werden müssen", hieß es in einer Mitteilung der Jüdischen Gemeinde Görlitz, die TAG24 vorliegt.
Eine von der Stadt verhängte Mediensperre bis weit nach der Übergabe sollte darüber hinaus offenbar vorerst alles geheim halten, um dann "eine schöne Geschichte zu erzählen", sagte Jacobowitz.
Erst am Freitag habe er endlich auch mit Ursu persönlich sprechen und die Torah-Rolle begutachten können. "Leider gab es keine Erklärung, wie hier mit den jüdischen Gemeinden umgegangen wird", sagte er im Gespräch mit TAG24. Der Moment, die Rolle nach 83 Jahren zu öffnen, sei für ihn "stark emotional" gewesen. "Ich habe ein bisschen geweint."
Doch die Story, wie die heilige Schrift nach mehr als acht Jahrzehnten plötzlich aufgetaucht ist, klingt für ihn wie ein Weihnachtsmärchen.
Kein Jude würde Teile aus einer Torah herausschneiden!
Demnach hat der Kunnerwitzer Pfarrer Uwe Mader (79), mittlerweile im Ruhestand, die Fragmente mehr als ein halbes Jahrhundert sicher auf- und das Geheimnis darum bewahrt. Nun übergab er sie an die Stadt. Dort seien sie "in guten Händen, es wird niemand achtlos damit umgehen", sagte der evangelische Geistliche.
Die vier vermutlich 150 Jahre alten Fragmente auf Pergamentpapier seien in der Pogromnacht am 9. November 1938 in letzter Minute aus der brennenden Synagoge gerettet worden, so Mader. "Sie wurden in Eile, aber sachkundig aus der Torah geschnitten, der heiligen Schrift der jüdischen Kultusgemeinde."
Wie bitte? Sachkundig? Kein Jude würde Teile aus einer Torah herausschneiden! "Dann ist sie ungültig", sagte Jacobowitz.
Allerdings müsse, wer auch immer das gemacht habe, des Hebräischen mächtig gewesen sein. Denn herausgetrennt wurden unter anderem die Textstellen mit den Zehn Geboten und dem Schma Jisrael, eines der wichtigsten Gebete im Judentum.
Maders Behauptung: Die Fragmente seien seinem Vater, damals ein junger Polizeianwärter, in die Hände gedrückt worden. Der wiederum habe sie auf Anraten eines Rechtsanwalts einem Pfarrer überreicht, damit sie vor den Nationalsozialisten sicher sind. Dessen Witwe wiederum vertraute sie 1969 dem jungen Mader an, der damals Vikar war, "unter dem Siegel der Verschwiegenheit".
Mader, später Polizeiseelsorger, habe die handbeschriebenen Pergamente bis heute in seinem Besitz gehabt. Zu DDR-Zeiten sei die Politik nicht sehr judenfreundlich gewesen, sagte er. "Daher war klar, dass ich Dienstverschwiegenheit wahren musste."
Vorhaben der Stadt Görlitz ist "empörend"
Zuerst habe Mader sie unter Tapetenrollen im Amtszimmer versteckt, dann in einem alten Stahlblechschrank der Polizei, den er nach der Wende geschenkt bekam. "Den Schlüssel dazu hatte ich immer bei mir."
Die Entwicklung der Synagoge und der Gesellschaft in Görlitz hätten ihn nun dazu gebracht, sein Schweigegelübde zu brechen und sie in das Ratsarchiv zu geben, sagte Mader. "Die Zeit des Misstrauens ist vorbei."
Alex Jacobowitz hat Zweifel an dieser Version. "Die Synagogen-Gemeinde hatte 1938 mindestens drei ganze Torah-Rollen. Die Fragmente machen davon vielleicht gerade einmal 15 Prozent von einer einzigen aus. Der Rest fehlt."
Pergament sei sehr schwer, eine Rolle habe 25 bis 30 Kilo gewogen, es dauere etwa eine halbe Stunde, um sie komplett auszurollen. Wer machte das in einer brennenden Synagoge?
"Die Teile, die herausgeschnitten wurden, stammen von der Rolle, aus der am 9. November 1938 gelesen wurde. Doch weshalb sollte jemand so weit durchrollen, um ein kleines Stück daraus zu 'retten'? Das ist äußerst unwahrscheinlich. Kein Jude schneidet etwas aus einer Torah. Dann ist sie beschädigt und nicht mehr nutzbar. Die Geschichte von dem Pfarrer kann nicht stimmen. Wenn wirklich alles koscher ist, warum hat er es so lange verschwiegen?"
Jacobowitz hat viele Fragen: Warum hat der evangelische Pfarrer die Fragmente nicht an die Jüdische Gemeinde oder sogar an seine eigene Kirchengemeinde zurückgegeben, sondern der Stadt geschenkt? "Herr Mader war 50 Jahre lang nur ein Telefonat von der richtigen Antwort entfernt, was damit zu tun ist."
Ebenso empörend findet er das Vorhaben der Stadt Görlitz, die Fragmente in einer Ausstellung für die Öffentlichkeit zeigen zu wollen. "Sollen sie dort verstauben? Sie werden wie ein gefundener Schatz behandelt. Dabei sollten sie wie Raubgut behandelt und zurückgegeben werden."
"Wir möchten unseren Standpunkt darlegen"
Das, was davon noch brauchbar ist, sollte repariert und in eine neue Torah-Rolle eingearbeitet werden, findet der Vorsitzende. Und die gehöre dann in die Görlitzer Synagoge.
Was nicht mehr brauchbar ist, könne durchaus auch in einer Ausstellung gezeigt werden - in der Synagoge! Als Mahnmal für das, was in jener Nacht passierte, als organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden in Deutschland und Österreich erstmals eskalierten und in der Vertreibung und Vernichtung von weltweit sechs Millionen Juden mündeten.
Sollten die Fragmente zu sehr beschädigt sein, müssten sie möglicherweise beerdigt werden, so ist es jüdischer Brauch. Klarheit über deren Qualität und Nutzbarkeit solle ein "Experte unserer Wahl" schaffen.
Streiten will sich Alex Jacobowitz mit der Stadt Görlitz auf keinen Fall. Schließlich ist die "Jüdische Gemeinde Görlitz begeistert und erfreut über den Fund". Doch "wir möchten bescheiden und klar unseren Standpunkt darlegen".
Er stellte klar: "Den Vorschlag, die Fragmente im Görlitzer Ratsarchiv aufzubewahren, unterstützen wir nicht, wohl aber die Herstellung einer Faksimile-Edition. Die Kosten würden wir tragen. Wir sind überzeugt, dass weder der zwischenzeitliche Bewahrer Eigentümer der Fragmente ist, noch ist die Stadt Görlitz berechtigt, über deren Verbleib zu verfügen."
Nicht der erste Fund dieser Art
Inzwischen haben sich - irritiert vom Handeln der Stadt Görlitz - mehrere Organisationen hinter diese Position gestellt, darunter das Bündnis gegen Antisemitismus in Dresden und Ostsachsen, die NETZWERKSTATT - Zeitgeschichte und Zivilgesellschaft und das Soziokulturelle Zentrum Hillersche Villa.
In einem gemeinsamen Schreiben an Octavian Ursu, das TAG24 ebenfalls vorliegt, hieß es: "Wir bitten Sie, zur Aufklärung des Sachverhalts beizutragen, indem Sie unsere Fragen nachvollziehbar und ausführlich beantworten. In Anbetracht der Irritationen, die das Handeln der Stadt Görlitz bei uns hervorgerufen hat, wäre dies ein wichtiger Beitrag zur Anerkennung des jüdischen Lebens in der Region und in Sachsen."
Auch die Jewish Claims Conference mit Sitz in New York hat sich bereits eingeschaltet. Die Organisation vertritt Juden weltweit bei ihren Klagen gegen Deutschland, wenn es um die Rückgabe von Naziraubgut geht.
Übrigens war es nicht das erste Mal, dass Teile einer Torah-Rolle in Görlitz aufgetaucht sind: 1964 schickte das Görlitzer Ratsarchiv der Jüdischen Gemeinde in Dresden Reste einer solchen. Im Archiv abgegeben hatte sie ein gewisser Artur Walter, der um 1950 als Schuhmachermeister arbeitete. Möglicherweise hatte er das Pergament nach den Ereignissen in der Pogromnacht erhalten. Er sollte damit Schaftstiefel füttern.
Titelfoto: Pawel Sosnowski