Mord an der jungen Polizistin Michèle Kiesewetter hinterließ tiefe Spuren
Heilbronn - Es ist der wohl rätselhafteste Mord des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU): Am 25. April 2007 machen die Polizistin Michèle Kiesewetter und ihr Kollege Martin A. Mittagspause.
Die Beamten stellen ihren Streifenwagen am Rande der Theresienwiese in Heilbronn ab. Wohl ohne Vorwarnung schießen ihnen die Terroristen von hinten in den Kopf. Sie nehmen Dienstwaffen und Handschellen mit. Michèle Kiesewetter (22) stirbt noch am Tatort. Martin A., damals 24, überlebt schwer verletzt. Er will sich aktuell nicht äußern. Es heißt, er habe keine Erinnerung an die Tat.
In Heilbronn hat der Anschlag tiefe Spuren hinterlassen. "Der Mord hat die Stadt nachhaltig verändert", sagt Heilbronns Oberbürgermeister Harry Mergel. "Er war eines der gravierendsten Ereignisse der letzten Jahre und ein traumatisches Erlebnis, das die Stadt und das Sicherheitsgefühl lange beeinflusst hat. Da es bis heute keine Erklärung dafür gibt, warum der Mord ausgerechnet in Heilbronn geschah, gibt der Fall bis heute Anlass für Spekulationen und Legendenbildung."
Die Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt - die sich vor zehn Jahren am 4. November 2011 das Leben nahmen, um einer Festnahme zu entgehen - hatten über Jahre hinweg acht türkischstämmige und einen griechischstämmigen Kleinunternehmer sowie Kiesewetter ermordet. Ihre Komplizin Beate Zschäpe wurde vom Oberlandesgericht München als Mittäterin zu lebenslanger Haft bei besonderer Schwere der Schuld verurteilt.
Im September verwarf der Bundesgerichtshof in Karlsruhe ihre Revision. Damit ist Zschäpe auch für den Mord an Kiesewetter rechtskräftig verurteilt.
Hinterbliebene kritisieren die Ermittlungsarbeit
Viele Hinterbliebene beklagen immer noch, dass die Behörden frühe Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund nicht ernst genommen hätten. Stattdessen seien Opfern und ihren Familien Zuhälterei, Drogengeschäfte, Mafiahändel, Menschenschmuggel, Schutzgelderpressung oder Frauengeschichten angedichtet worden.
Die Tochter von Enver Şimşek - dem ersten Opfer des NSU -, Semiya Şimşek, sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Der NSU hatte Helfershelfer. Wir wissen, dass es sie gibt. Gegen diese wird sehr, sehr wenig ermittelt. Deutschland tut so, als würde der NSU nur aus drei Menschen bestehen. Deutschland tut so, als hätte es kein Problem mit Rechts." Die heute 35-Jährige hatte Deutschland nach dem Mord an ihrem Vater den Rücken gekehrt. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern in der Türkei.
Der baden-württembergische Landtag hatte sich in zwei Untersuchungsausschüssen mit dem NSU und Rechtsterrorismus im Südwesten befasst. Grüne, CDU, SPD und FDP hatten keine Zweifel daran, dass Böhnhardt und Mundlos die Polizistin ermordeten. Der zweite Ausschuss hatte unter anderem empfohlen, dass die Internetbearbeitung massiv intensiviert wird. Im Landesamt für Verfassungsschutz ist deshalb ein eigenständiges Referat geschaffen worden, das sich ausschließlich um die Beobachtung rechtsextremistischer Bestrebungen im Netz kümmert.
Frank Dittrich, seit Oktober 2020 Leiter der eigenständigen Abteilung Rechtsextremismus/-terrorismus, Reichsbürger und Selbstverwalter in der Stuttgarter Behörde sagt, der Rechtsextremismus habe sich seit dem Auffliegen der NSU-Terroristen vor zehn Jahren massiv verändert. Die Neonazi-Szene sei eine andere, die Skinheadszene als solche existiere faktisch kaum noch oder gar nicht mehr.
"Die Vorstellung eines Rechten in Springerstiefeln und mit Glatzkopf gehören der Vergangenheit an. Es gibt kein typisches Erscheinungsbild, so wie wir das früher hatten, wo man den Neonazi noch vom Skinhead unterscheiden konnte."
Rätselhafter Mord an Polizistin Kiesewetter passt nicht so recht ins NSU-Muster
Der Mord an Kiesewetter ist deshalb so rätselhaft, weil er nicht ins Muster der fremdenfeindlichen NSU-Anschläge passt. Kiesewetter stammte aus Thüringen, sie ging in Oberweißbach zur Grundschule. Es gab Berichte über angebliche Verbindungen des Neonazi-Trios nach Oberweißbach. Laut Bundeskriminalamt gibt es aber keine Hinweise auf eine "wie auch immer geartete" Vorbeziehung zwischen Kiesewetter und den mutmaßlichen Terroristen.
Der frühere Bundestagsabgeordnete Clemens Binninger (CDU) hatte da so seine Zweifel: "Wie groß muss der Zufall sein, dass bei einer zufällig ausgewählten Streife aus 230.000 Polizisten in Deutschland das Opfer aus Oberweißbach (Thüringen) kommt, der Patenonkel selber bei der Polizei ist, Ende der 90er Jahre beim Staatsschutz war, dort dienstlich mit dem rechtsradikalen "Thüringer Heimatschutz" zu tun hatte - dem Verbund, aus dem das NSU-Trio in Jena hervorgegangen ist?", sagte er einmal.
Die Bundesanwaltschaft hält Kiesewetter und Martin A. für "Zufallsopfer" - die Terroristen hätten sie angegriffen, weil sie als Polizisten für den von ihnen verhassten Staat standen. "Ich bin allen möglichen und unmöglichen Spuren nachgegangen", sagte auch Anwältin Birgit Wolf. Sie vertrat die Mutter der Ermordeten Kiesewetter im Münchner Prozess. "Es gab alle möglichen Aussagen. Wenn man das kritisch betrachtet, gibt es jedoch keine Anhaltspunkte, dass weitere Täter an dem Mord beteiligt waren."
Die frühere Obfrau der Grünen im NSU-Unterschungsausschuss des Bundestages, Irene Mihalic, sagt: "Die massiven Ermittlungsfehler und der mangelnde Aufklärungswille in deutschen Sicherheitsbehörden hat das Vertrauen zahlreicher Menschen mit Migrationsgeschichte in die Sicherheitsbehörden nachhaltig geschwächt."
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