Nazi-Lied auf Sylt sorgt für Entsetzen: Deutschland, mir graut vor Dir!
In seinem Kommentar zu dem rechtsextremen Lied bei einer Party auf Sylt analysiert TAG24-Redakteur Florian Gürtler (46) das Video vor dem Hintergrund soziologischer und ideengeschichtlicher Erkenntnisse.
Auf der Edel-Insel Sylt singen Besucher eines Clubs in ausgelassener Party-Stimmung rechtsextreme Parolen. Die beklemmende Szene trendet gegenwärtig auf Social Media unter dem Hashtag #Sylt - und sie lässt sehr tief blicken: Deutschland, mir graut vor Dir!
"Ein Gespenst geht um in der Welt - das Gespenst eines autoritären Nationalismus und Rechtspopulismus", heißt es vielsagend in dem Buch "Autoritäre Versuchungen" aus dem Jahr 2018, in dem sich der Soziologe Wilhelm Heitmeyer (78) mit dem Aufkommen der AfD und neuer rechter bis rechtsextremer Strömungen in Deutschland befasst.
Schon damals stellte der Wissenschaftler fest, dass die Anhänger dieser Geisteshaltungen in ihrer Mehrzahl keineswegs aus den unteren sozialen Schichten kommen, sondern aus der eher gut verdienenden Mitte der Gesellschaft.
Das aktuelle Sylt-Video bestätigt dies augenscheinlich: Die Frauen und Männer, die da "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" singen, sind vermutlich eher gut situiert.
Zu einem ähnlichen Befund kommen die Soziologen Carolin Amlinger (39) und Oliver Nachtwey (48) in ihrem Buch "Gekränkte Freiheit" aus dem Jahr 2022. Sie beobachten das Aufkommen eines neuen Autoritarismus in Deutschland - gerade bei Angehörigen der Mittelschicht, die sich selbst als "liberal" einschätzen. Diese "libertären Autoritären" hätten "oft keine Berührungsängste mit Faschisten" und drohten, "nicht nur vorübergehend" eine "Drift nach rechts" zu vollziehen.
Auch für diese soziologische Analyse scheinen die rechtsradikalen Sänger auf Sylt eine Bestätigung zu sein: Ihre Kleidung und ihr Habitus lassen sie wie Vorzeige-Repräsentanten der "Mitte" wirken.
Das Sylt-Video als Warnschuss: Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft
Die Szene ist ohne Zweifel erschreckend, doch sie wird zu einem regelrechten Warnschuss, wenn man eine geschichtliche Dimension hinzunimmt.
Der israelische Historiker Ishay Landa zeigt in seinem Buch "Der Lehrling und sein Meister" aus dem Jahr 2021, dass der Faschismus der 1930er-Jahre Ideengeschichtlich "das organische Ergebnis von Entwicklungen" war, die in der "liberalen Gesellschaft und Ideologie stattfanden".
Diese "Verwandtschaft" zwischen Liberalismus und Faschismus scheint auch in dem Sylt-Video auf, sehen die Sängerinnen und Sänger doch gerade nicht wie "klassische" Nazis aus, sondern vielmehr wie junge Konservative oder Liberale.
Das Video dokumentiert, dass die rechtsextremistische Ideologie inzwischen in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen ist. Zwar war es auch diese Mitte, die Anfang des Jahres gegen Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus in Massen demonstrierte, doch es war eben nur ein Teil dieser Mitte. Wie ein anderer Teil denkt, zeigt das Sylt-Video.
Wer will, dass Deutschland ein freiheitliches, im besten Sinne "liberales" Land bleibt, sollte die Gefahr, die aus unserer Gesellschaft erwächst, nicht vergessen - und auch nicht unterschätzen!
Der Blick aufs große Ganze: Ein besseres Deutschland ist möglich
Der obige Kommentar war gewissermaßen ein Blick ins Detail, es folgt ein kurzer Blick auf das große Ganze, den ich so oder so ähnlich unter jeden meiner politischen Kommentare stelle.
Um das Ausgreifen des Rechtsextremismus auf weitere Teile der Gesellschaft zu verhindern, benötigen wir eine andere Politik!
Denn ein besseres Deutschland ist möglich, mit einem besseren Leben für uns alle - mit höheren Löhnen und kürzeren Arbeitszeiten, mit niedrigeren Mieten und ausreichend Wohnungen, mit auskömmlichen Renten, einem gut finanzierten Gesundheitssystem, einem wohlwollenden Sozialstaat und einem bezahlbaren und landesweit ausgebauten ÖPNV in einer Gesellschaft, die demokratisch und sozial bedarfsgerecht sowie ökologisch und klimatisch nachhaltig ist.
Was wir dafür brauchen, ist sozialer Fortschritt, eine linke Republik und die schrittweise Überwindung des Kapitalismus in unserem Land.
Titelfoto: Montage: Stefan Sauer/dpa, Florian Gürtler