Klimakrise, Inflation, soziale Spaltung: Sollten wir uns alle auf die Straßen kleben?
In seinem Kommentar zur "Letzten Generation" wirft TAG24-Redakteur Florian Gürtler (45) die Frage auf, ob die radikalen Klimaschützer nicht anfangen sollten, nach Bündnispartnern in der Gesellschaft zu suchen.
Die Klimaschützer der "Letzten Generation" möchten vom heutigen Mittwoch an ihre Blockade- und Protestaktionen in der deutschen Hauptstadt bündeln. Berlin soll "zum Stillstand" gebracht werden, um die Bundesregierung "zum Aufbruch zu bewegen". Die Aufregung darüber ist groß, aber mal ganz im Ernst: Sollten wir uns vielleicht besser alle auf die Straßen kleben - und die Forderungen der "Letzten Generation" noch um einiges erweitern?
Um dies gleich vorneweg zu sagen: Ja, die Klebe-Aktionen der Klimaschützer sind zweifelhaft, denn mit ihren Straßenblockaden treffen die Aktivistinnen und Aktivisten der "Letzten Generation" eben nicht die Angehörigen der politischen Elite, die sie doch eigentlich mit ihren Forderungen erreichen möchten. Stattdessen schaden sie mit ihren Blockaden den ganz normalen sogenannten "kleinen Leuten".
Damit machen es die Aktivisten ihren Gegnern - jenen gesellschaftlichen Kräften, die Klimaschutz-Maßnahmen möglichst zu verhindern oder zumindest stark zu verwässern trachten - zudem ziemlich einfach, gegen die "Letzte Generation" zu agitieren. Die bekannte Phrase von den angeblichen "Klimaterroristen" ist wohl das bekannteste Beispiel hierfür.
Natürlich ist das Gerede von "Terroristen" absolut lächerlich, wenn man sich die äußerst manierlichen und nicht gerade radikalen Forderung der "Letzten Generation" ansieht: Die sogenannten "Klima-Kleber" verlangen ein Tempolimit von 100 km/h und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket.
Die zweite Forderung jedoch öffnet ein Fenster, das vielen der klebe-freudigen Klimaschützer wahrscheinlich nicht bewusst ist, sonst würden sie lauter dafür werben.
Vorschlag an die "Letzte Generation": Klimaschutz und Sozialpolitik offensiv zusammen denken
Auf der Website Letztegeneration.de heißt es: "Ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket! Bezahlbare Bahnen in Zeiten steigender Lebenshaltungskosten sind nur gerecht! Außerdem würde ein 9-Euro-Ticket auch einiges an CO2 einsparen."
Das jedoch ist der entscheidende Punkt: Klimaschutz kann nur dann dauerhaft erfolgreich sein, wenn die breite Masse der Bevölkerung davon spürbar profitiert. Nicht ohne Grund sprechen einige Wissenschaftler - wie etwa der Soziologieprofessor Klaus Dörre (65) - davon, dass wir einen ökologischen Sozialismus bräuchten.
Fakt ist: Wir sind als Gesellschaft nicht nur mit einer sich mehr und mehr auftürmenden Klimakrise konfrontiert, sondern auch mit einer sozialen Krise, die sich etwa mit massiven Preissprüngen bei Lebensmitteln oder Mieten inzwischen auch bei Menschen mit mittleren Einkommen bemerkbar macht.
Auf dem Portal Ungleichheit.info ist zudem nachzulesen: "Es ist kaum zu glauben, aber in Deutschland lebt jeder 6. Mensch an oder unter der Armutsgrenze, jedes 5. Kind lebt in Armut - und das, obwohl wir ein reiches Industrieland sind."
Darum hier zum Abschluss ein Gedanke: Warum nur für mehr Klimaschutz die Straßen blockieren? Die eklatant ungerechte Verteilung des Reichtums dieses Landes zugunsten einiger sehr weniger und zum Nachteil von sehr vielen wäre ohne Zweifel auch ein Grund für alle "kleinen Leute", um wieder und wieder zu protestieren.
Vielleicht sollte die "Letzte Generation" anfangen, nach Bündnispartnerin in der Gesellschaft zu suchen - und Klimaschutz und Sozialpolitik offensiv zusammen denken.
Titelfoto: Montage: Nadine Weigel/dpa/dpa, Florian Gürtler