Hymne grölen in Kreuzberg oder: Wird Berlin nach EM-Aus wieder normal?
Berlin - Die aktuelle Fußball-Europameisterschaft schreibt ihre eigenen Kiez-Jeschichten. Auf einmal entdeckt Kreuzberg den Patriotismus und man fragt sich: Watt'n ditte? Und: Geht das wieder weg?
Neulich saß ich bei einem Chinesen im Graefekiez und wie es der Zufall so wollte, liefen zu just diesem Zeitpunkt die Spieler der deutschen Nationalmannschaft in Dortmund zum Achtelfinale gegen Dänemark auf den Platz.
Ein großer Fernseher vor der Kneipe nebenan übertrug das Spektakel. Die ganze Straße war überfüllt, sogar ein Kamerateam war vor Ort, um hoffentlich ein paar Jubelszenen einzufangen.
Und dann, ich traute meinen Ohren kaum, begannen die zum Rudelgucken versammelten Fans - wahlweise im magentafarbenen Hype-Trikot oder in der "Check24"-Billo-Variante - nahezu entrückt, die deutsche Nationalhymne mitzuschmettern.
Wie bitte? War das die von Medien fast verzweifelt herbei geschriebene Neuauflage des Sommermärchens von 2006? Jener Weltmeisterschaft also, die den Begriff des gesunden Patriotismus hervorbrachte und dieses seltsame Land in das fast putzige "Schland" umtaufte (Like, wer's noch kennt).
"Einigkeit und Recht und Freiheit?" - aber doch nicht in Kreuzberg! Immerhin befanden wir uns hier im Zentrum der Hausbesetzer-Szene der 1980er-Jahre, das immer noch tief im linksalternativen Milieu verhaftet war. CDU-Chef Merz (68) sah sich angesichts der wilden Durchmischung zwischen Kotti und Görli sogar genötigt zu betonen: "Nicht Kreuzberg ist Deutschland".
"Na, besser ist das!", mochten sich bis vor Kurzem noch all die gedacht haben, die immer schon wenig Vertrauen in Staat und Polizeiapparat hatten. Und nun - so schien es mir vor meinen Nudeln sitzend - waren auch 36 und 61 eingeknickt. Willkommen im Biergarten Eden!
EM 2024 in Deutschland: Alles schwarz-rot-geil?
Ein bisschen befremdlich fand ich sie schon, diese ganze Schwarz-rot-geil-Stimmung. Schließlich war die Europameisterschaft nicht nur das oft behauptete Fest der Völkerverständigung. Sondern von Anfang an auch Tummelplatz für Faschos, Wolfsgruß-Zeiger und Pseudo-Gigi-D'Agostino-Fans.
Und dann verlor am Freitag das deutsche Team in der Verlängerung mit 1:2 gegen Spanien. Zugegeben, ein bisschen traurig war ich schon, und ich hätte Musiala, Füllkrug und Co. den Einzug ins Halbfinale nach dem tollen Spiel gegönnt.
Gleichzeitig atmete ich innerlich auf. Denn es gehört zu den ewigen Gesetzen internationaler Fußballturniere, dass sie hierzulande kein Schwein mehr interessieren, sobald die deutsche Mannschaft ausgeschieden ist.
Damit heißt es dann auch erfahrungsgemäß "Bye, bye, Deutschlandlied" - ab jetzt stammen Kreuzberger Hymnen wieder von Ton Steine Scherben oder Pashanim. Noch mal Glück gehabt.
Titelfoto: Christoph Soeder/dpa