"Durch den Monsun" am Späti: Warum die coolen Kids in Berlin auf einmal Tokio Hotel feiern!

Berlin - Auf einmal feiern die coolen Kids im snobby Berlin das frühe Tokio Hotel: Was ist denn da passiert? Eine Kiez-Jeschichte, wie sie nur die Hauptstadt schreibt.

Wie putzig sie aussahen: Tokio Hotel zu ihren Karriereanfängen.
Wie putzig sie aussahen: Tokio Hotel zu ihren Karriereanfängen.  © Sören Stache dpa/lbn

Da meine Wohnung in der Nähe des Ostkreuzes liegt, führt mein täglicher Heimweg vorbei an zahllosen Kneipen, Restaurants und Bars. Findige Stadtmarketing-Füchse prägten hierfür einst den Begriff "Szene-Kiez". Na ja.

Herzstück der Gegend ist der Späti Ecke Boxhagener Straße, auf dessen Sitzbänken Tag für Tag Berlins Kreaturen der Nacht bei ihrer schaurig-schönen Feier des Seins aufeinandertreffen. Es ist dreckig, es ist laut und ziemlich kuschelig.

Keine Frage also, dass man einiges gewohnt ist, wo sich Friedrichshainer Partypublikum und Sauf-Touris auf die Nacht einstimmen: Viel Glitzer-Glitzer, Lack und Leder - weil: Ein bisschen queer ist jeder und sexpositiv sowieso - dazu verschiedene Stadien substanzinduzierter Abflüge und Abstürze.

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Alles so weit normal, lächeln und weitergehen. Doch eines, das sei hier zugegeben, hat mich in den vergangenen Wochen dann DOCH aus dem Konzept gebracht.

So trug es sich gleich mehrfach (schwöre!) zu, dass ich nichts ahnend an besagtem Kiez-Späti vorbeiflanierte und plötzlich aus irgendeiner mitgebrachten Bose-Box 2005er-Tokio-Hotel-Hits wie "Durch den Monsun" und "Schrei" herüberschallten.

Dazu eine Horde Gen-Z-Kids, die die fast 20 Jahre alten Songs augenscheinlich auswendig kannten und völlig unironisch abfeierten - zumindest weitgehend, denn völlig ohne Ironie geht es in der Hauptstadt ja nun auch nicht.

Tokio Hotel war offenbar auf einmal cool - und ich einigermaßen erstaunt. Wann war denn das passiert?

Eine neue Lockerheit

Vor Friedrichshainer Spätis fühlen sich inzwischen auch Tokio-Hotel-Fans pudelwohl.
Vor Friedrichshainer Spätis fühlen sich inzwischen auch Tokio-Hotel-Fans pudelwohl.  © TAG24

Wer sich Mitte der Nullerjahre den Freuden und Leiden des ausgewiesenen Musik-Nerdtums hingab, der wusste: Tokio Hotel - das war der Feind! Das war Pop, Ausverkauf, das war gefühlig und uncool. Emo eben, irgendwie mädchenhaft, wie man toxisch-männlich sozialisiert so dachte.

Es ist heute kaum mehr vorstellbar, welchen Stellenwert Musik und nicht zuletzt eine Band wie Tokio Hotel in der Prä-Spotify-Ära noch hatten. Als vier schmächtige Teenager aus Sachsen-Anhalt nicht nur Bettbezüge in Jugendzimmern zierten, sondern ihre Fans in völlige Ekstase bis hin zur Ohnmacht versetzten.

Und auf der anderen Seite dieser tiefe Hass der Männerwelt, nicht nur der prolligen Discopumper, sondern auch der verkrampften Bescheidwisser-Streber mit Seitenscheitel und Radiohead-Patch auf dem Parka.

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Beides auf seine Art unangenehm. In jedem Fall aber dogmatisch im Denken und ziemlich steif in der Hüfte.

Vielleicht ist dem Nullerjahre-Revival der Gen-Z genau dieses Verdienst zuzuschreiben: Lockerheit als das neue sexy, Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensperspektiven und -entwürfen.

Tokio Hotel: Gar nicht mal so unpolitisch

Auch Rapper Ski Aggu (26) feiert die Jungs aus Magdeburg.
Auch Rapper Ski Aggu (26) feiert die Jungs aus Magdeburg.  © Christian Charisius/dpa

Dabei darf es auch mal schrill, verspielt, ein bisschen drüber, ja sogar kitschig oder gar peinlich zugehen. Und wenn Ski Aggu (26) - quasi der Posterboy der neuen Generation - im Vintage-"Tokio Hotel"-Shirt auftritt, ist das halt schon ziemlich stylisch.

Auch politisch waren Tokio Hotel relevanter als oft angenommen: So rückte Bill queere Identitäten in die Öffentlichkeit, bevor es Mainstream war, auch Themen wie mentale Gesundheit spielten in den Texten der Band von Anfang an eine Rolle.

Klar, heute gehört der Hass auf die Band längst vergangenen Zeiten an und die Kaulitz-Brüder sind anerkannte Mega-Stars.

Trotzdem werde ich mich freuen, wenn ich das nächste Mal an meinem Lieblings-Späti vorbeilaufe und plötzlich diese Zeilen erklingen: "Ich muss durch den Monsun / Hinter die Welt / Ans Ende der Zeit ..."

Titelfoto: Sören Stache dpa/lbn

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