Wenn Glücksspiel süchtig macht: TAG24 im Interview mit Spielsucht-Experten
Dresden - Im Fernsehen warben Promis wie Boris Becker oder H.P. Baxxter großspurig für Onlinecasinos oder Pokerportale - allerdings nur für "Personen mit Wohnsitz in Schleswig-Holstein." Dieser Hinweis fällt jetzt weg. Seit 1. Juli dürfen offiziell alle legal mitzocken. So regelt es der neue Glücksspielstaatsvertrag.
Doch Experten schlagen Alarm, warnen vor dem Suchtpotenzial von Online-Glücksspielen. Wir sprachen mit dem Diplom-Psychologen Dr. Tobias Hayer (46), Glücksspielforscher an der Uni Bremen und Mitglied im Fachbeirat Glücksspielsucht, über Suchtgefahren, Spielsüchtige und vertane Chancen.
TAG24: Herr Hayer, warum gilt seit 1. Juli ein neuer Glücksspielstaatsvertrag?
Hintergrund sind die immer höheren Umsatzanteile im illegalen Bereich. So wurden 2019 insgesamt 17 Prozent der gesamten Bruttospielerträge - gleichbedeutend mit den Nettoverlusten der Spieler - im Schwarzmarkt generiert.
Haupttriebfeder war das Internet-Glücksspiel, das in ganz Deutschland - mit Ausnahme von Schleswig-Holstein - verboten war.
Im Zuge der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung stellte sich die Frage, ob ein Verbot noch zeitgemäß war. Daneben spielten sicherlich auch fiskalische Interessen eine Rolle. Immerhin sind Glücksspiele ein Milliardengeschäft.
Spielsucht kann jeden treffen - Männer besonders
TAG24: Welche Punkte im neuen Vertrag kritisieren Sie?
Das Kind wurde buchstäblich mit dem Bade ausgeschüttet, da jetzt alle möglichen Formen des Online-Glücksspiels deutschlandweit zur Verfügung stehen.
Damit gehen unter dem Deckmantel der Legalität massive Spielanreize und damit erhöhte Suchtgefahren einher. Problematisch ist vor allem, dass sich mit dem Multi-Konzessions-Modell eine unbegrenzte Anzahl an Unternehmen um Lizenzen bemühen darf.
Eine Folge ist die exzessive Produktvermarktung nach dem Prinzip "schneller, höher, weiter", die primär Neukunden und Vielspieler ansprechen soll.
TAG24: Wer ist besonders gefährdet, spielsüchtig zu werden?
Betroffen sind vor allem Männer, junge Erwachsene und Menschen mit Migrationshintergrund. Glücksspielsüchtige Personen zeichnen sich in erster Linie durch eine hohe Impulsivität, eine ausgeprägte Risikoneigung und Defizite im Umgang mit Stress aus.
Außerdem deutet sich an, dass Mitglieder von Sportvereinen und Servicekräfte, die in Spielhallen arbeiten, besonders gefährdet zu sein scheinen. Im ersten Fall sind die Nähe zu Sportwetten und der Trugschluss, sein Fachwissen in Sachen Sport in einfacher Weise zu Geld machen zu können, eine wesentliche Triebfeder.
Im zweiten Fall dürfte die permanente Konfrontation mit Glücksspielreizen Risiko-erhöhend wirken.
Spielsüchtige führen über Jahre hinweg ein Doppelleben
TAG24: Schildern Sie einmal einen Fall aus Ihrer Praxis!
Geldbeschaffung ist ein zentrales Thema für Betroffene. Typisch ist anfangs das "Schlachten" der Sparschweine der Kinder, was fatale Auswirkungen auf die familiäre Situation hat. Am Ende einer Spielerkarriere stehen nicht selten Delikte wie Diebstahl, Betrug, Veruntreuung oder Raub.
Mir ist eine Person in Erinnerung, die mehrfach Sparkassen überfallen hat und die Beute immer unmittelbar danach in Großteilen wieder verzockt hat.
Bei diesem Mann war das Verlangen nach dem Glücksspiel so groß, dass er sogar auf jegliche Bemühungen verzichtete, seine Straftaten zu vertuschen.
TAG24: Woran erkennen Angehörige, dass aus harmlosem Spiel eine Sucht geworden ist?
Das Vertrackte an der Glücksspielsucht ist, dass man die Erkrankung recht gut verheimlichen kann. Man hat keine Fahne oder einen torkelnden Gang wie bei Alkoholabhängigkeit. Eindeutige Warnhinweise, die von außen gut zu erkennen sind, gibt es nicht.
Die Betroffenen führen oftmals über Jahre eine Art Doppelleben und feilen so lange an ihrem Lügengerüst, bis Haus und Hof verzockt sind.
Ständige Verfügbarkeit erhöht Suchtpotenzial
TAG24: Bei welchen Glücksspielen droht das höchste Suchtrisiko?
An der Spitze steht immer noch das Automatenspiel in deutschlandweit rund 9000 Spielhallen und bis zu 50.000 Gaststätten. Hier locken Gewinne und Verluste im Sekundentakt.
Allerdings holen Sportwetten und Online-Glücksspiele auf. Mittels mobiler Endgeräte kann ortsunabhängig zu jeder Tages- und Nachtzeit gezockt werden.
Diese ständige Verfügbarkeit in Kombination mit leichter Zugänglichkeit und fehlenden sozialen Kontrollmöglichkeiten spricht für ein hohes Suchtpotenzial.
Hinzu kommt der bargeldlose Zahlungsverkehr. Dadurch verlieren Spieler viel schneller Gesamteinsätze und -verluste aus dem Blickfeld.
So kann man Betroffenen helfen
TAG24: Sind Betroffene jetzt überhaupt noch vor ihrem eigenen Spieltrieb geschützt?
Der Staatsvertrag enthält Maßnahmen des Spielerschutzes, die jedoch Defizite aufweisen. Hierzu gehört ein Einzahlungslimit für alle Online-Glücksspiele, das mit 1000 Euro im Monat jedoch zu hoch ausgefallen ist.
Eine wirkliche Errungenschaft stellt die Etablierung einer zentralen Sperrdatei dar, die spielformübergreifende Reichweite hat. Aus der Forschung wissen wir, dass gerade Spielersperren für viele Betroffene ein wichtiges Hilfsmittel auf dem Weg zur Genesung sind.
TAG24: Wo können sich Betroffene oder Angehörige und Freunde von Spielsüchtigen Hilfe holen?
Mittlerweile existiert ein recht gut ausdifferenziertes professionelles Hilfe- und Unterstützungsangebot. Es umfasst klassische ambulante Suchtberatungsstellen vor Ort, aber auch stationäre Behandlungsangebote, Selbsthilfegruppen, mehrsprachige Telefon-Hotlines sowie Online-Beratung oder Online-Foren.
Eine erste gute Orientierung bietet die Website www.bundesweit-gegen-gluecksspielsucht.de
Ein Drittel wird Spielsucht niemals los
TAG24: Wie sieht eine Therapie aus?
Zuerst müssen sich Betroffene ihre Sucht eingestehen und Veränderungsbereitschaft gefördert werden. Oftmals muss der Umgang mit Geld neu erlernt werden. Bei den zeitintensiveren Behandlungsansätzen geht es verstärkt um die Aufarbeitung von Hintergrundproblemen.
TAG24: Wie hoch ist die Rückfallrate?
Wir gehen von einer "Drittel-Regel" aus: Ein Drittel aller Hilfe suchenden Spieler lebt dauerhaft abstinent. Bei einem weiteren Drittel ist die Lebensqualität deutlich verbessert. Es kommt jedoch vereinzelt zu Rückfällen. Bei dem letzten Drittel geht die Beratung hingegen weitgehend ohne Verhaltensänderungen einher. Doch je früher man professionelle Hilfe in Anspruch nimmt, desto größer sind die Erfolgsaussichten.
TAG24: Bei den geschilderten Gefahren - warum wird Glücksspiel eigentlich nicht verboten?
Ein Totalverbot ist weder realistisch noch politisch durchsetzbar - insbesondere, wenn ein Suchtmittel bereits die Mitte der Gesellschaft erreicht hat.
Intelligenter wäre ein restriktiver Regulationsansatz des Glücksspielmarktes bei gleichzeitiger Stärkung des Jugend- und Spielerschutzes.
Hunderttausende sind abhängig
Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigen etwa 200.000 Bundesbürger Spielsuchtverhalten, weitere 229.000 haben deutliche Probleme mit Glücksspielen.
Dazu kommen etwa zwei Millionen Erwachsene mit riskanten oder auffälligen Spielmustern.
Hayer: "Die Dunkelziffer dürfte höher liegen." Daten aus Baden-Württemberg zeigen einen Zusammenhang zwischen Geldspielautomatendichte und dem Anteil an arbeitslosen Personen in einer Region auf.
Hayer: "Spielhallen und Wettbüros sind zudem häufig in Gebieten vorzufinden, die als sozial-strukturell benachteiligt gelten."
Titelfoto: Kai Uwe Bohn/Universität Bremen, Hochschulkommunikation