Klein und krumm wird aussortiert: Verbraucherschützer kritisieren Schönheitswahn im Obstregal
Leipzig - Schönheitswahn im Supermarkt: In den Obst- und Gemüseregalen des Einzelhandels finden sich kaum Dinge, die nicht dem ästhetischen Ideal der Werbewelt entsprechen. Selbst Güteklasse II werde kaum noch angeboten, ergab eine Marktanalyse der Verbraucherzentrale.
Für ihren Marktcheck 2023 hatten die Verbraucherschützer die Obst- und Gemüseabteilungen von 25 Supermärkten und Discountern untersucht.
Das Ergebnis: Noch immer orientiert sich der Handel vor allem an Optik und Form. Gleiche Größe, gleiche Färbung – alles wie gemalt.
Vor allem bei Äpfeln entsprechen drei Viertel der angebotenen Früchte der Güteklasse I, ein Viertel der Klasse II. Letztere finden sich aber vor allem in Bio-Märkten. Ähnlich sei die Situation bei Möhren, berichtet Verbraucherschützerin Annett Reinke.
Naturprodukte wachsen aber nicht nach einheitlichem Schema, sondern weisen in Größe und Form Unterschiede auf, stellt die Lebensmittel-Expertin klar.
Verbraucherzentrale bemängelt Einheitspreise trotz gravierender Unterschiede beim Gewicht
Liege aber nur "perfektes" Obst und Gemüse in den Regalen, erschwere das den Verkauf landwirtschaftlicher Produkte, die diesen Anforderungen nicht genügen. Obst und Gemüse, das etwas kleiner oder krummer ist, sei nicht weniger wert und könne geschmacklich selbstverständlich mithalten, meint Reinke.
Und fordert den Handel auf, auf eigene Anforderungen an Größe, Einheitlichkeit und Aussehen zu verzichten. "Das wäre ein enormer Schritt gegen die Verschwendung von Lebensmitteln."
Was die Verbraucherzentrale ebenfalls bemängelt, sind Einheitspreise für unterschiedliche Größen, etwa bei Eisbergsalat und Kohlrabis. So lagen hier die Gewichtsunterschiede bei bis zu 720 Gramm – trotz des gleichen Preises.
Im Interesse der Verbraucher sollten Anbieter Obst und Gemüse grundsätzlich nach Gewicht und nicht nach Stück verkaufen, so Reinke.
Kommentar: Schrecklich perfekt
Wer selbst schon mal im heimischen Garten oder auf Balkonien Obst und Gemüse angebaut hat, der weiß, wie höchst unterschiedlich die Früchte eigener Arbeit gedeihen. Ob groß oder klein, krumm oder gerade, makellos oder mit Beule – egal.
Der Kleingärtner beißt in Apfel, Möhre oder Tomate und freut sich einfach nur über die schmackhafte Frucht der eigenen Scholle.
Anders das Bild im Supermarkt. Hier ist alles wie geleckt. Gleich groß, makellos gewachsen, mit identischem Teint. Was dem Schönheitsideal nicht entspricht, schafft es meist gar nicht erst in die Obst- und Gemüseregale – und landet nicht selten nach der Ernte in der Kompostieranlage.
Wenn die Verbraucherschützer den Handel dafür kritisieren, ist das einerseits richtig, andererseits aber zu kurz gesprungen.
Denn der Handel richtet sich nach uns, den Kunden. Die Nachfrage bestimmt das Angebot auch hier. Greifen wir nur nach dem Makellosen, werden wir nichts anderes mehr angeboten bekommen.
Dass es ausschließlich Mutter Natur schafft, so viel Perfektion in die Obst- und Gemüseregale zu zaubern – wer das glaubt, ist reichlich naiv. Beispiel Tomate: Was heute abgepackt im Discounter liegt, hat mit einer Naturtomate nichts mehr zu tun.
Es sind uniforme Industrietomaten, die in gigantischen Gewächshäusern im Turboverfahren herangezogen werden und deren Saatgut in den Laboren von Chemie-Giganten wie Bayer, BASF oder Syngenta marktgerecht "gestylt" wurde.
Schmeckt man übrigens auch. Während Gartentomaten auf der Zunge echte Aromabomben sind, kommen die größtenteils aus Holland importierten roten Wasserballons oftmals regelrecht geschmacksneutral daher.
Aber in unserer Konsumgesellschaft geht es nun mal überwiegend um die äußere Erscheinung und nicht so sehr um innere Werte. Und das nicht nur im Supermarkt.
Titelfoto: Bildmontage: Alexander Bischoff, imago images/CHROMORANGE