IQ sinkt seit Jahren: Können wir uns wirklich dumm essen?
Stuttgart - An Weihnachten wird so richtig geschlemmt. Meist kommt dabei allerlei Selbstgekochtes und sehr Feines auf den Tisch. Doch wenn uns der Alltag wieder einholt, gibt es auch mal wieder was Fertiges oder Junk-Food. Doch was macht dieses Essen eigentlich mit unserem Körper und Kopf? Der Journalist und Autor Hans-Ulrich Grimm (66) meint, dass hochverarbeitetes Essen wirklich dumm machen kann.
TAG24: Nahrung wirkt im Kopf: Macht Essen dumm?
Hans-Ulrich Grimm: Grundsätzlich macht Essen natürlich intelligent, denn das Hirn braucht Nahrung wie kein anderes Organ. Obwohl es nur zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es 20 Prozent der gesamten Energie. Und wenn da zu wenig kommt oder das Falsche, dann schlägt das auf die Denkfähigkeit, aber auch auf den Gefühlshaushalt, sogar das Verhalten [nieder].
TAG24: Welche Stoffe in der Ernährung schlagen wirklich aufs Gehirn und was wird dadurch ausgelöst?
Grimm: Am wichtigsten ist natürlich der Zucker. Ein ganz wesentlicher Treibstoff für die grauen Zellen, aber wenn zu viel davon kommt, wirkt das explosiv. Das kann bei den Kids zu Hyperaktivität und Lernstörungen führen (ADHS), auch zu Depressionen oder Aggressionen, kann die Denkfähigkeit generell beeinträchtigen, Alzheimer fördern. Problematisch sind auch viele Zusatzstoffe. Oder ganz neu entdeckte Problemstoffe, die durch die flächendeckende Erhitzung der Industrienahrung entstehen.
IQ sinkt seit Jahren
TAG24: Der durchschnittliche IQ steigt seit den 90er-Jahren nicht mehr, im Gegenteil - er fällt. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Grimm: Danach suchen mittlerweile weltweit ganze Wissenschaftszweige, die sich mit der Gehirnernährung beschäftigen. Und sie haben viele Hinweise gefunden, dass es mit der Industrialisierung der Nahrungskette zu tun hat, die zur Ausbreitung solcher Problemstoffe führt und zugleich zum Schwund hirnwichtiger Inhaltsstoffe, wie etwa der berühmten Omega-3-Fettsäuren, die nicht so lange halten, wie die Supermärkte das gern hätten. Oder auch den chemischen Zusätzen, wie etwa dem sogenannten Geschmacksverstärker Glutamat.
TAG24: Glutamat ist in vielen Tütensuppen und in Restaurant-Essen enthalten und wird oft verteufelt, doch es kommt auch in natürlichen Produkten vor. Gibt es [gutes] Glutamat und [schlechtes] Glutamat? Was löst das industrielle Glutamat im Gehirn aus?
Grimm: Es ist eine Frage der Dosis. Glutamat ist ein wichtiger Botenstoff im Gehirn. Wenn er fehlt, leidet die Denkfähigkeit, wenn er aber in Überdosis verabreicht wird, wirkt er als „Nervenzellgift“, wie Alzheimerforscher sagen, und führt zu Zerstörung und Fehlsteuerung, übrigens auch bei der Gewichtsregulierung: Die Menschen essen mehr, als sie brauchen, und werden dadurch dicker und dicker.
Es gibt keine dicken Tiere in der Natur
TAG24: Zusatzstoffe in der Nahrung können dick machen. Woran liegt das?
Grimm: Weil die natürlichen Regelkreisläufe gestört werden. Es gibt ja in der Tierwelt nirgends Übergewicht, keine dicken Adler, die wegen Wampe nicht abheben können, oder moppelige Löwen, die der Antilope nicht hinterherkommen. Nur der Mensch wird dicker und dicker, und er schafft das, indem er die Gewichtsregulation stört, mit Glutamat, aber auch Zucker, oder industriellem „Aroma“, das die geschmacksbasierte Nachschubsteuerung austrickst.
TAG24: ADHS und Autismus, Alzheimer und Demenz: Welchen Einfluss hat die Ernährung auf Krankheiten?
Grimm: Viele Krankheiten gehen ja vom Verdauungstrakt aus: "Der Tod kommt aus dem Darm", besagt eine alte Medizinerweisheit. Dort entstehen unter anderem chronische Entzündungen, die zu den sogenannten Zivilisationskrankheiten führen, den berühmten "Vorerkrankungen" bei COVID. Der Körper reagiert auf Fastfood, auf industrielle Nahrung wie auf einen klassischen Krankheitserreger - und schickt seine Abwehrtruppen los. Eine natürliche und sinnvolle Reaktion - die aber, auf Dauer gestellt, ihrerseits toxisch wirkt.
TAG24: Zucker ist in der Leberwurst, in Pommes und im Schinken: Was richtet der Zucker im Gehirn an und warum?
Grimm: Der Zucker kann ein Suchtverhalten auslösen. Denn er dockt im sogenannten „Belohnungszentrum“ an den gleichen Stellen an wie klassische Drogen, Kokain zum Beispiel. Essen sorgt ja für Wohlgefühle, weil es fürs Überleben unabdingbar ist, und Süße gab es früher nur in Früchten, die unzweifelhaft gesund sind. Was es in der Natur nicht gibt, ist aber purer Zucker, allgegenwärtig, wie heute in der Wurst und im Brot. Und diese Allverfügbarkeit führt zu Sucht: Der Verstand und die Regelmechanismen des Gehirns werden ausgeschaltet.
TAG24: Was sollte man tun, um seinen Verstand zu schützen? Was steckt hinter dem Begriff "Gourmet-Ernährung"?
Grimm: Gourmets orientieren sich kompromisslos am Geschmack - und damit an den Gesetzmäßigkeiten des Gehirns, wo der Geschmack eine ganz zentrale Rolle spielt bei der Versorgung. Mein Körper entwickelt, wenn ihm etwas fehlt, genau darauf Appetit. Gourmets sind nach diesem Verständnis übrigens keine elitären Snobs, sondern kulinarisch kundige Leute, wie traditionell die Landbevölkerung in Italien, Frankreich, China, wo sie sich sehr gut mit ihren Lebensmitteln auskennen. Ganz wichtig übrigens für die Kinder, dass man ihnen den wichtigsten Kompass fürs Gesunde mitgibt: einen unbestechlichen Geschmackssinn.
Gutes Essen ist gar nicht so leicht zu erkennen
TAG24: Woran erkennen Verbraucher gesunde Lebensmittel im Supermarkt, Restaurant, Kantine?
Grimm: Daran, dass sie keine bunte Packung haben, keine Chemikalien als Zutaten, vor allem keine geschmacksmanipulierenden Zusätze. Grundsätzlich gilt: Wenn "Aroma" draufsteht, ist immer was faul.
TAG24: Inwiefern spielen Zusatzstoffe eine Rolle bei Corona-Infektionen? Manche Menschen scheinen einfach nicht zu erkranken, woran könnte das liegen?
Grimm: An ihrem intakten Immunsystem. Das ist ein bisschen in den Hintergrund geraten vor lauter Begeisterung übers Impfen. Doch dann hat sich herausgestellt: Ohne intakte Immunabwehr hilft auch die schönste Impfkampagne nichts. Und das Hauptquartier der Abwehrtruppen ist im Darm angesiedelt - weil der überraschenderweise den meisten Kontakt zur Außenwelt hat. Die Zusatzstoffe können die Abwehrtruppen stören, sogar gute Mikroben in böse verwandeln, die Darmwand löchrig werden lassen, den Aggressoren Tür und Tor öffnen. Wichtig also, die mikrobiellen Mitbewohner dort bei Laune zu halten und ihre Kampfmoral zu stärken.
Der Darm gilt übrigens als das "zweite Gehirn", hat die meisten Neuronen außerhalb des Kopfes, beherbergt auch Glückshormone; die Gefühle kommen ja bekanntlich aus dem Bauch. Und je besser das Essen, desto besser ist die Abwehr - und auch das Wohlbefinden.
Hans-Ulrich Grimm hat seine Recherchen in "Dumm gegessen! Wie uns die Nahrungsindustrie um den Verstand bringt" zusammengefasst. Das Buch ist im Droemer Knaur Verlag erschienen und für 20 Euro erhältlich. In seinem Blog Food Detektiv berichtet der Stuttgarter Journalist regelmäßig über das Thema Ernährung, Zusatzstoffe und Industrienahrung.
Titelfoto: Droemer Knaur Verlag