Zehn Stunden im Tag-X-Polizeikessel: Betroffene schildert "katastrophale" Zustände
Leipzig - Seit Monaten wurde innerhalb der linken Szene für "Tag X" - den Samstag nach der Urteilsverkündung im Antifa Ost-Verfahren - mobilisiert. Der geplanten Großdemonstration in Leipzig machte das Ordnungsamt mit einem vollumfänglichen Verbot allerdings einen Strich durch die Rechnung. Trotzdem gingen am vergangenen Samstag Tausende Leute auf die Straße - und landeten in einem umstrittenen Polizeikessel. TAG24 sprach mit einer Betroffenen.
Samstag, 3. Juni, 17 Uhr: Die 20-jährige Lena (Name geändert, Anm. d. Red.) traf mit ihren Freunden am Alexis-Schumann-Platz ein, um den Redebeiträgen der angemeldeten "Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig!"-Demo zu lauschen und dann im Aufzug durch die Südvorstadt zu ziehen.
Schon bei der Anreise zur Karl-Liebknecht-Straße staunte sie über das riesige Polizeiaufgebot mitsamt Wasserwerfern und Räumpanzern: "Man musste aus jeder Richtung, egal von wo man gekommen ist, durch so 100 bis 200 Meter Polizei durch."
Vor allem wollte Lena dort ein Zeichen für die Versammlungsfreiheit setzen: "Dieses Pauschalverbot am Wochenende war meiner Meinung nach ganz klar gegen die Grundrechte", erklärt sie gegenüber TAG24. Zudem wollte sie sich mit den Angeklagten im Antifa Ost-Prozess solidarisieren.
Gegen 17.30 Uhr dann die Ansage der Behörde: Der Demozug dürfe aufgrund der hohen Teilnehmerzahl und vereinzelter Vermummungen nur als örtliche Kundgebung stattfinden. Das Losgehen wurde mittels einer richterlichen Entscheidung untersagt und die Polizei rückte immer näher auf. Bis zu diesem Zeitpunkt sei die Stimmung unter den Demonstrierenden laut Lena friedlich gewesen - das kurzfristige Verbot änderte dies: "Das Verhalten der Polizei war auf keiner Ebene deeskalierend."
Stattdessen kam immer mehr Bewegung in die Masse, vereinzelte Personen versuchten erst auf der einen, dann auf der anderen Seite durch die Polizeikette zu brechen. Es wurde mit Flaschen und Steinen auf Einsatzkräfte und -wagen geworfen. Insgesamt 28 Beamte wurden bei dem Einsatz verletzt, fünf von ihnen waren nicht mehr dienstfähig.
Demonstrierende mussten teilweise mehr als zehn Stunden im Kessel ausharren
Als die Gruppe um Lena dann auf der Karli in südliche Richtung laufen wollte, ging alles ganz schnell: "Wir hatten das Pech, dass wir in der letzten Reihe standen und, ohne dass wir Widerstand geleistet haben, von Polizisten von hinten geschubst und in den Rücken geboxt wurden, damit wir in Richtung Park gehen."
Im Park am Heinrich-Schütz-Platz wurden an diesem Abend laut Polizei über 1000 Menschen - unter ihnen zwei Kinder und mehr als 80 Jugendliche - eingekesselt. Sie alle mussten sich nach und nach einer Identitätsfeststellung wegen des Vorwurfs des schweren Landfriedensbruchs unterziehen, Hunderten Personen wurde das Handy abgenommen.
Die Polizei soll ihnen zudem ein Angebot unterbreitet haben: Wer sein Telefon freiwillig für unbestimmte Zeit abgibt, kommt früher bei der ID-Feststellung an der Reihe und darf den Kessel schneller wieder verlassen. Auf TAG24-Nachfrage äußerte sich die Polizei nicht zu den Hintergründen dieses Angebots.
Lena kritisiert besonders die schlechte Kommunikation der Behörde. So wurden den Eingekesselten keine Details zur Art und Dauer der Prozedur mitgeteilt. Im Endeffekt saß die 20-Jährige mehr als zehn Stunden in dem Park fest, kurz vor 5 Uhr durfte sie dann als eine der Letzten gehen.
Laut Polizeisprecher Olaf Hoppe seien zumindest die minderjährigen Anwesenden priorisiert behandelt und alle Kinder noch vor Mitternacht aus dem Kessel geholt worden. Zudem habe es Versuche der Einsatzkräfte gegeben, Minderjährige innerhalb der Umschließung aufzuspüren und zur Identitätsfeststellung zu bringen. Dies sei aber aufgrund "mangelnder Kooperationsbereitschaft und Vermummung" nicht möglich gewesen.
Ehrenamtliche Sanitäter und Sanitäterinnen kritisieren Verhalten der Polizei
Die Personen standen dicht aneinandergedrängt und hatten stellenweise nicht genug Platz, um sich hinzusetzen. Außerhalb der Umschließung habe es laut Hoppe zwei medizinische Versorgungspunkte für Verletzte gegeben, innerhalb des Kessels kümmerten sich aber ausschließlich ehrenamtliche SanitäterInnen um die Festgesetzten.
Als sich nach circa einer Stunde die ersten Kreislaufzusammenbrüche und Panikattacken in ihrem Umfeld abspielten, bekam auch Lena es kurz mit der Angst zu tun: "Weil man auch gesehen hat, die dürfen nicht raus!"
Nach Aussage der Polizeidirektion sei den Demo-Sanis jederzeit der "ungehinderte Zugang" ins Innere des Kessels möglich gewesen. Dem widersprachen beteiligte SanitäterInnen im Nachhinein klar: So habe die Polizei ihre logistische Arbeit nicht nur komplett auf die HelferInnen ausgelagert, "sondern diese auch teilweise blockiert".
So seien viele der sowieso schon überlasteten Sani-Teams kontrolliert, durchsucht und sogar mit Platzverweisen belegt worden. Augenzeugen bestätigten dieses Vorgehen gegenüber TAG24.
Von außerhalb des Kessels trugen BürgerInnen immer wieder Einkäufe heran, um die Menschen im Inneren mit Snacks, Trinken und Decken zu versorgen. Die Polizei stellte ihrerseits einen Trinkwasseranhänger zur Verfügung, Essen gab es nur für in Gewahrsam genommene Personen.
Die Solidarität innerhalb des Kessels und auch vonseiten der engagierten Menschen rund um den Platz hat Lena nachhaltig beeindruckt: Jeder hat sich um jeden gekümmert - abgesehen von den Beamten: "Von der Polizei kam überhaupt nichts." Olaf Hoppe hingegen kann diese Vorwürfe nicht nachvollziehen: "Grundsätzlich hat die Polizei auf Bedürfnisse der Personen reagiert und alle, die sich bei den Einsatzkräften gemeldet haben, vorrangig bearbeitet."
Polizeikessel in Leipzig: "Die hygienische Situation war katastrophal"
Und dann war da noch das Toiletten-Problem: Für die mehr als 1000 Menschen wurde lediglich ein notdürftig mit Decken verhangener Busch "zur Verfügung gestellt", hinter den gepinkelt werden konnte. Elf Stunden lang. Außerhalb des Kessels gab es mobile WCs - die man allerdings nur benutzen durfte, wenn man sich in Polizeigewahrsam begab.
Rettungssanitäterin Iza Hofmann, die vor Ort war, kann über diesen Zustand nur den Kopf schütteln: "Die gesamte Situation war prekär. Dieser Einsatz war nicht mit der Menschenwürde vereinbar." Lena sieht es ähnlich: "Die hygienische Situation war katastrophal."
Wie viele Demonstrierende im Zuge der Ausschreitungen und Einkesselung körperliche Schäden davontrugen, ist nach wie vor unklar. Der Polizei liegen dazu bisher keine Zahlen vor.
Laut dem Grünen-Stadtrat Jürgen Kasek (42, Versammlungsleiter des verbotenen Demo-Zuges) sei etwa ein Jugendlicher beim Vorrücken der Polizei derart heftig gegen den Kopf geschlagen worden, dass er sich einen Jochbeinbruch und eine Gehirnerschütterung zuzog.
Zu konkreten Verletzungsgeschichten oder möglicherweise fahrlässigen Verhaltensweisen der Beamten äußerte sich die Polizeidirektion gegenüber TAG24 bisher nicht, es hieß aber: "Alle Hinweise zu möglichen Fehlverhaltens seitens der Einsatzkräfte werden sehr ernst genommen und diesen wird auch nachgegangen."
Die Aufarbeitung der Geschehnisse rund um den 3. Juni ist also noch lange nicht abgeschlossen. Während die Polizeigewerkschaft und auch Politiker wie Leipzigs OB Burkhard Jung (65, SPD) das Vorgehen der Einsatzkräfte loben, will sich der sächsische Innenausschuss in einer Sondersitzung kritisch mit dem Thema auseinandersetzen.
Titelfoto: Montage Hendrik Schmidt/dpa ; Robert Michael/dpa