Waren Corona-Schutzmaßnahmen überzogen? Uni-Professor stellt steile These auf
Berlin - Wusste die Bundesregierung vor dem Lockdown, dass dieser gar nicht nötig ist? Diese These macht derzeit im Netz die Runde, selbst im Bundestag wird die Frage diskutiert.
Der Lockdown, ein wahnwitziger Schritt wider besseres Wissen? Ein Ökonom der Universität Hannover versucht sich derzeit als Mahner: Stefan Homburg, Professor für Öffentliche Finanzen, erreicht mit seinen Thesen ein Millionenpublikum, auf YouTube, im Fernsehen und in der Presse. Mittlerweile haben sie sogar den Bundestag erreicht.
Er sagt, man müsse kein Mediziner sein, um die Daten zu verstehen.
Laut den Zahlen des Robert Koch-Instituts sei der Lockdown unnötig gewesen - und müsse deshalb beendet werden. "Die Eliten" hätten das schon lange gewusst.
Doch das ist falsch.
Das Video, über das der Bundestag spricht
Das bedeutet die Reproduktionszahl
Das Robert Koch-Institut (RKI) veröffentlichte am 15. April eine Grafik mit Angaben zur sogenannten Reproduktionszahl (R) des Coronavirus. Sie sagt etwas darüber aus, wie viele andere Menschen ein mit Sars-CoV-2 Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Liegt R bei unter 1, sinkt die Zahl der Neuinfizierten. Als das weitgehende Kontaktverbot am 23. März in Kraft trat, lag die Reproduktionszahl laut RKI bereits bei unter 1.
Homburg behauptet, man habe damals schon anhand der RKI-Zahlen wissen können, dass der Lockdown nichts bringe. Das RKI konnte jedoch laut einer Sprecherin die Reproduktionszahl erst dann bestimmen, als der maximale Verzug zwischen einer Infektion und der Meldung beim RKI bekannt war. Das sei erst Ende März der Fall gewesen.
Dann habe man das Modell angepasst und validiert. "Grundsätzlich schätzt das Modell eine Reproduktionszahl, die das Infektionsgeschehen vor 10-11 Tagen abbildet", teilte die Sprecherin mit.
Viele neue Corona-Fälle Ende März
Am 22. März konnte demnach niemandem - auch den "Eliten" nicht - anhand von RKI-Zahlen bekannt gewesen sein, wie hoch damals die Reproduktionszahl war.
Bekannt war hingegen, dass die Zahl der Neuinfektionen bis zum 22. März massiv anstieg. Sowohl die Berechnungsmethoden als auch die damals bekannten Fallzahlen lassen sich in dem RKI-Dokument vom 15. April nachlesen.
Der sogenannte Lockdown ab dem 23. März war ohnehin nur der vorläufige Höhepunkt einer ganzen Reihe von Maßnahmen.
Gemäß der Vereinbarung von Bund und Ländern wurden schon nach dem 16. März nicht nur Bars, Kinos, Clubs, Schwimmbäder und Museen geschlossen.
Auch viele Läden des Einzelhandels mussten dichtmachen. Übernachtungen in Hotels waren für Touristen ebenso nicht mehr möglich.
Zu diesem Zeitpunkt lag die Reproduktionszahl in Deutschland noch deutlich über 1.
Shutdown sorgte für konstante Reproduktionszahl
Homburg suggeriert zudem, vor allem die Beschlüsse der Bundesregierung vom 22. März hätten die Wirtschaft gewissermaßen lahmgelegt.
Großkonzerne wie Daimler und VW hatten allerdings schon in der Woche zuvor Fabriken geschlossen. Den Autobauern waren Absatzmärkte weggebrochen, außerdem hatten sie Lieferschwierigkeiten etwa wegen der Lage in Italien und China. Ausschlaggebend waren auch Sorgen um die Ansteckungsgefahr für die Mitarbeiter.
Viele Konzerne in Deutschland schlossen also nicht, weil der Staat es angeblich so anordnete, sondern weil die Produktion im bisherigen Umfang nicht mehr möglich oder wirtschaftlich nicht sinnvoll war.
Aber was ist nun mit den Maßnahmen, die ab dem 23. März galten: Waren sie so sinnlos, wie Homburg behauptet?
Der Statistiker Helmut Küchenhoff aus München widerspricht entschieden, dass die RKI-Grafik das hergibt. "Die Aussage, dass man allein aus der Reproduktionszahl die Unwirksamkeit der Maßnahmen ableiten kann, ist einfach nicht richtig. Das ist eine falsche Interpretation der Grafik."
Warum aber blieb die Reproduktionszahl in Deutschland etwa auf dem gleichen Niveau, seitdem die Kontaktsperre in Kraft ist? Das RKI verweist unter anderem auf mehrere Ausbrüche in Pflege- und Altenheimen Ende März. Sobald sich das Virus dort erst mal ausbreitet, lässt sich dem auch mit den derzeit geltenden Kontaktbeschränkungen kaum begegnen.
Selbst wenn dann die Reproduktionszahl zur gleichen Zeit andernorts sinkt, bleibt sie im Mittel etwa gleich. Laut RKI werden zudem durch das Kontaktverbot die Ansteckungen zwischen verschiedenen Haushalten verringert.
Zahlen müssen auch interpretiert werden können, nicht nur gelesen
Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation warnt ebenfalls davor, die Daten leichtfertig zu interpretieren: "Es ist sehr schwierig, allein anhand dieser Grafik Ursache und Wirkung abzulesen."
Faktoren wie Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen und andere ließen sich nicht so leicht auseinandernehmen. Ihren eigenen Berechnungen zufolge zeige sich eine klare Wirkung der Kontaktsperre vom 22. März.
Der R-Wert ist außerdem ein bundesweiter Durchschnitt. Er überdeckt, dass es regional große Unterschiede geben kann. Ein exponentielles Wachstum der Infiziertenzahl ist allerdings immer gefährlich, egal ob auf Bundes-, Landes- oder Kreisebene.
Viele Epidemiologen sehen es als sinnvoll an, den R-Wert mit entsprechenden Maßnahmen dauerhaft sehr deutlich unter 1 zu drücken, um der Covid-19-Epidemie in Deutschland Herr zu werden.
Von voreiligen Schlüssen von Fachfremden wie dem Ökonomen Homburg hält der Statistiker Küchenhoff wenig. "Man muss Zahlen richtig lesen können - und dafür muss man sich eben ein bisschen mit Epidemiologie beschäftigen."
Titelfoto: dpa/Marijan Murat, dpa/picture alliance/Ingo Wagner