"You'll Never Walk Alone": Katastrophen machen Fußball-Hymne unsterblich

New York (USA) - Es ist ein Lied mit chaotischer Melodieführung und kompliziert verschachtelten Harmonien, welches nahezu kein Mensch ohne musikalische Ausbildung unfallfrei vorzutragen vermag. Ausgerechnet dieses Lied wurde die weltweit berühmteste Fußballhymne. Sie wird von tausendstimmigen Fan-Chören an Orten geschmettert, an denen üblicherweise nur martialische Schlachtrufe skandiert wurden. Heute vor 80 Jahren - am 19. April 1945 - erblickte "You'll Never Walk Alone" (YNWA) am New Yorker Broadway das Licht der Welt.

Der Broadway ist das Theaterviertel im New Yorker Stadtteil Manhattan.  © picture alliance / SZ Photo

Dass es sich in die Herzen der Fans einbrannte, hat auch mit zwei schrecklichen Katastrophen zu tun.

Wird das Lied angestimmt, kehrt eine heilige Ruhe im Stadion ein, als würden sich Gläubige zum Gebet versammeln. Zunächst vernimmt man nur wirres Gemurmel, weil keiner, obwohl er den Text kennt, den richtigen Ton trifft. Außerdem ist 6/8-Takt nicht jedermanns Sache. Die Arena ist erfüllt von einem verschwurbelten Summen und Brummen.

Ab der Textzeile "Walk On" entsteht langsam Struktur im Fan-Chor. Den richtigen Ton erwischen nur wenige, doch zusammen quält man sich irgendwie die Tonleiter hinauf.

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Ist der Gipfel endlich erklommen, kommt es zur gemeinsamen Eruption. Völlig synchron, voller Inbrunst und wie aus einer Kehle werden die letzten Silben "You'll Never Walk Alone" intoniert.

Danach unterbricht der Fernsehmoderator sein andächtiges Schweigen und formuliert einen Satz, in dem das Wort "Gänsehaut" nicht fehlen darf.

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Richard Rodgers (l.) war für die Komposition zuständig, Oscar Hammerstein II für die Texte. Als Team rollten sie den Broadway auf.  © IMAGO/GRANGER Historical Picture Archive

Musical wird 80 Jahre alt

Das Musical "Carousel" beginnt als Liebesgeschichte und endet als Tragödie. Ein Lied soll den Betroffenen aber Mut und Hoffnung geben.  © IMAGO / Everett Collection

Du wirst niemals alleine gehen! Es ist dieser eine Satz, welchen die Fans ihrem Team mit ins Spiel geben. Ob düstere oder sonnige Zeiten - wir stehen hinter euch, so die Botschaft. Ansonsten ist der Text schwülstig und kitschig. Der Song ist, wenn man John Lennon ins Sächsische übersetzt, "'ne fette Bemme Schmalz".

Heute vor 80 Jahren erlebte das Musical "Carousel" der beiden Broadway-Legenden Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II seine Uraufführung. Es erzählt von einem Karussell-Arbeiter, der aus finanzieller Not einen Raubüberfall begeht und dabei umkommt.

Das Lied wird zweimal gesungen. Einmal, um die hochschwangere Witwe zu ermutigen, über den Tod ihres Mannes hinwegzukommen.

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Und dann im Finale, um seine inzwischen 15-jährige Tochter zu bestärken.

Ab 1963 wurde der Song "You'll Never Walk Alone" an der Anfield Road gespielt

Mit ihrer Vereinshymne stärken die Fans des FC Liverpool ihr Team und lassen die Gegner erzittern.  © IMAGO/Action Plus

Tatsächlich war es dieses Lied, welches die New Yorker immer wieder ins Theater zog. Nicht etwa Fußballfans, sondern vornehmlich Frauen.

Ihre Ehemänner, Brüder oder Söhne kämpften gerade im Zweiten Weltkrieg oder waren bereits gefallen.

Dieses Lied spendete Trost. "Carousel" wurde erst nach 890 Aufführungen abgesetzt. Kein Geringerer als Frank Sinatra brachte den Song bereits 1945 auf einer Platte heraus. Über den Großen Teich schwappte er damals noch nicht.

Orts- und Zeitwechsel: Die Fans des FC Liverpool waren euphorisiert. Nach langer Durststrecke war ihr Verein 1962 wieder in die erste Division aufgestiegen.

Vor jedem Spiel erklangen die Top Ten der britischen Charts über die Stadionanlage. Und auf der Stehplatztribüne "The Kop" sang man besonders laut mit, wenn ein in Liverpool entstandenes Lied erklang. Es war die Zeit des "Merseybeat". Allen voran "The Beatles" oder "The Searchers" standen für Liverpool.

Auch ein gewisser Gerry Marsden, der mit "Gerry & The Pacemakers" bereits mehrfach in den Charts war. Er sah eine Carousel-Verfilmung im Kino und war ergriffen. Sein Manager und sein Produzent, die damals auch die Beatles betreuten, lehnten den Song zunächst ab. Er sei zu langsam. Trotzdem schaffte es YNWA in die Top 10.

Somit wurde der Song ab Oktober 1963 auch an der Anfield Road beim FC Liverpool gespielt. Und weil er vier Wochen auf Platz eins stand, auch als letzter direkt vor dem Spiel. Die Fans sangen äußerst enthusiastisch mit. Als YNWA wieder aus den Charts rutschte, sangen sie das Lied von nun an immer vor dem Anpfiff.

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Fußball-Hymne wurde durch Katastrophen in Stadien weltberühmt

Die Hillsborough-Katastrophe war 1989 die schwärzeste Stunde für den FC Liverpool.  © IMAGO/Colorsport

In dieser Saison wurde Liverpool erstmals seit 17 Jahren wieder Meister. Man schrieb der Hymne magische Kräfte zu. Johan Cruyff, einer der weltweit besten Fußballspieler, sagte einmal: "Die Liverpooler Fans haben mir Schauer über den Rücken gejagt. Eine Menge von 40.000 Menschen wurde eine Kraft hinter ihrer Mannschaft."

Zwei tragische Katastrophen im Fußball machten das Lied dann unsterblich. Bei einem Drittligaspiel in Bradford wurde die Holztribüne 1985 binnen kurzer Zeit zur Flammenhölle, 56 Menschen verloren ihr Leben und 256 wurden schwer verletzt.

Um für die Hinterbliebenen Spenden zu sammeln, sang Gerry Marsden das Lied gemeinsam mit 50 britischen Stars neu ein. Erneut erreichte es Platz eins der Charts und wurde jetzt weltberühmt.

Vier Jahre später kam es zur Hillsborough-Katastrophe. Bei einer Massenpanik in Sheffield wurden 97 Liverpool-Fans zu Tode gequetscht, 766 Schwerverletzte - der schwärzeste Tag der Clubgeschichte.

"You'll Never Walk Alone" wird auch in deutschen Stadien gesungen

Der Satz "You'll Never Walk Alone" wurde ins Vereinswappen aufgenommen. Beim zentralen Gedenkgottesdienst in der Liverpooler Kathedrale sangen die Hinterbliebenen gemeinsam dieses Lied.

Inzwischen gibt es weltweit - bis nach Australien und Südamerika - viele Fanklubs, welche mit der Hymne ihrer Mannschaft den Rücken stärken wollen. In Deutschland wird YNWA unter anderem in Dortmund, Mainz und auf St. Pauli gesungen.

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