"Land lahmgelegt": Franzosen streiken weiter gegen Rentenreform
Paris - Einen Tag nach den bislang größten Demonstrationen gegen die geplante Rentenreform in Frankreich haben viele Beschäftigte am Mittwoch weiter gestreikt.
Die Auslieferung von Treibstoff aus den Raffinieren war weiterhin blockiert, was zu ersten Engpässen an Tankstellen führte. Die Streiks sollen auch in den kommenden Tagen fortgesetzt werden. Im Bahnverkehr wird es nach Angaben der französischen Bahn am Donnerstag erneut "starke Störungen" geben.
Die Regierung zeigte sich gesprächsbereit. "Die Tür der Regierung steht weit offen, wenn die Gewerkschaften, die seit Wochen kein Interesse gezeigt haben, wieder den Dialog suchen", sagte Regierungssprecher Olivier Véran (42) dem Sender RTL.
Die Gewerkschaften hatten am Vorabend die Verlängerung der Streiks und weitere Aktionstage am kommenden Samstag und Mittwoch beschlossen. Außerdem forderten sie ein "dringendes Treffen" mit Präsident Emmanuel Macron (45), zu dem es jedoch trotz der "offenen Tür" zunächst nicht kam.
Verkehrsminister Clément Beaune (41) drohte mit Blick auf die Treibstoffversorgung mit Zwangsmaßnahmen. "Wir lassen es nicht zu, dass das Land lahmgelegt wird", sagte er dem Sender LCI. "Wir haben juristische Mittel, um einzuschreiten", betonte er.
Die Regierung hatte im Oktober bereits Personal von Raffinerien zum Dienst verpflichtet, als Beschäftigte höhere Gehälter gefordert hatten.
Gewerkschaften sprechen von 3,5 Millionen Demonstranten
Die Proteste richten sich gegen die derzeit im Senat debattierte Rentenreform, die die Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre vorsieht. Am Dienstag gingen nach offiziellen Angaben landesweit 1,28 Millionen Menschen auf die Straße.
Ende Januar waren es 1,27 Millionen gewesen. Die Gewerkschaften sprachen von 3,5 Millionen Demonstranten am Mittwoch und einer "historischen Beteiligung".
Der anhaltende Streik beim Energiekonzern EDF führte am Mittwoch zu einer um 15.000 Megawatt verminderten Stromproduktion. Es fielen außerdem etwa zwei Drittel der Zugverbindungen und bis zu 30 Prozent der Flüge aus.
Auch der Pariser Nahverkehr war erneut massiv beeinträchtigt, und etwa ein Drittel der Pariser Müllabfuhr beteiligte sich am Streik.
Die französischen Flüssiggas-Terminals und mehrere Gasdepots wurden ebenfalls weiter blockiert. Dabei gab es allerdings keine Auswirkungen auf die Verbraucher. Hafenarbeiter blockierten die Häfen von Le Havre, Rouen, Brest und Marseille.
Die französische Bahn SNCF kündigte für Donnerstag erneut "starke Störungen" an. Nur jeder dritte TGV-Schnellzug werde fahren und je nach Region nur zwei von fünf TER-Regionalzügen. Auch am Freitag werde es weitere zu Beeinträchtigungen kommen.
Umstrittene Rentenreform könnte bereits kommende Woche beschlossen werden
Macron hatte sich in den vergangenen Wochen mit Blick auf die Rentenreform - die er einst zu einem seiner Hauptvorhaben erklärt hatte - in der Öffentlichkeit sehr zurückgehalten.
Er überließ es Premierministerin Elisabeth Borne (61) und Arbeitsminister Olivier Dussopt (44), die Reform zu verteidigen, die zwei Drittel der Franzosen ablehnen.
Die massive Protestwelle richtet sich nicht ausschließlich gegen die Rentenreform. Sie ist auch ein Ausdruck allgemeiner Politikverdrossenheit und der Sorge wegen der gestiegenen Preise.
Der Senat debattiert noch bis Sonntag über den umstrittenen Gesetzentwurf. Möglicherweise kann das Parlament die Reform bereits am Donnerstag der kommenden Woche mit den Stimmen der Regierungspartei Renaissance und der konservativen Republikaner beschließen.
Die französische Regierung will erreichen, dass Franzosen länger arbeiten, um ein Defizit in der Rentenkasse zu verhindern. Zudem soll die Mindestrente bei voller Beitragszeit auf 1200 Euro angehoben werden. Die Einstellung von Senioren soll gefördert werden.
In Frankreich scheiden Menschen laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Schnitt mit 60 Jahren aus dem Arbeitsmarkt aus, die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 80 Jahre.
Titelfoto: Bob Edme/AP