Ein Russe verhindert im Alleingang den Atomkrieg: Wie Oberst Petrow die Welt rettete
Moskau (Russland) - 750 Millionen Tote und 340 Millionen Schwerverletzte in den ersten Tagen, und durch den nuklearen Winter vielleicht das Ende der Zivilisation - vor 40 Jahren war die Menschheit nur einen Anruf von diesem Schreckensszenario entfernt.
Nur weil der sowjetische Oberst Stanislaw Petrow, damals 44, die eindeutigen Hinweise auf einen Atomangriff anzweifelte und nicht dem Protokoll folgte, rettete er am 26. September 1983 die Welt.
Da diese Geschichte - anders als sie es verdient hätte - nicht in den Schulbüchern unserer Erde steht, erzählen wir sie an dieser Stelle noch einmal.
Die Supermächte waren nervös
Als die Sonne an diesem 26. September vor 40 Jahren über die Erde zog, ahnte keiner der 4,7 Milliarden Menschen vom nächtlichen Glücksfall.
In den USA dominierte eine große Demütigung die Nachrichten: Nach 132 Jahren war es erstmals kein amerikanisches Segelschiff, welches den legendären America's Cup gewann, sondern eine australische Yacht.
Ansonsten wurde in den Medien vor allem über die atomare Aufrüstung und den Kalten Krieg gesprochen, der sich in diesem Jahr erheblich zugespitzt hatte.
US-Präsident Ronald Reagan wollte die Sowjetunion, das "Reich des Bösen", mit einem Wettrüsten in die Knie zwingen. Mehrmals pro Woche flogen US-Bomber bis kurz vor den sowjetischen Luftraum.
Auch bei den Sowjets lag der Finger locker am Abzug: Eine verirrte Passagiermaschine aus Südkorea wurde am 1. September abgeschossen (269 Tote).
Der Oberst blieb besonnen
Die Führung der UdSSR befürchtete tatsächlich einen atomaren Überraschungsangriff.
In dieser Situation trat Oberst Petrow am Abend des 25. September seine Nachtschicht an. Er war diensthabender Offizier im Bunker Serpuchow-15, in dem sich die Kommandozentrale für das Satelliten-Frühwarnsystem befand. Dieses konnte eine gestartete Rakete zehn Minuten früher erkennen als das klassische Radar.
Aus Sicht der Militärs wertvolle Zeit. Denn wenn der Feind schon zum Vernichtungsschlag ansetzt, soll er sicher sein, dass auch er gleich vernichtet wird - so die kranke Logik im Kalten Krieg. Das nannte man gegenseitige Abschreckung. Wenn beide Mächte den roten Knopf drücken, machen sich 5000 nukleare Sprengköpfe auf den Weg. Mehr als 1000 Städte mit über 100.000 Einwohnern würden ausgelöscht.
Kurz nach Mitternacht jaulten die Sirenen auf. Auf einer US-Basis in Montana, so meldete das Computersystem mit maximaler Wahrscheinlichkeit, wurde eine Rakete in Richtung Sowjetunion geschickt. Sie würde in 25 Minuten einschlagen. Die Protokolle sahen vor, dass über die Befehlskette der Kreml informiert würde. Und der ans Krankenbett gefesselte und besonders argwöhnische Staatschef Juri Andropow hätte wohl gehandelt.
Knapp 80 Augenpaare schauten gebannt auf Oberst Petrow. "Hinsetzen, weiterarbeiten!" sprach er ins Mikrofon.
Bange Minuten im Bunker
Zwar hatte er riesige Zweifel an seiner Entscheidung. Aber sollten die Amerikaner einen Nuklearschlag mit nur einer einzigen Rakete beginnen? Wer leert denn einen Eimer mit dem Teelöffel aus? Bange Minuten. Petrow wollte dringend noch die Bestätigung der Radarüberwachung abwarten. Diese kam nicht.
"Wir hatten einen Fehlalarm", gab er telefonisch an seinen Vorgesetzten weiter.
Kurz darauf aber meldete das Satellitensystem einen weiteren Raketenstart, wenig später drei weitere. Wieder bange Minuten. Petrow bestand erneut auf die Bestätigung durch das Radar. Diese blieb wiederum aus, erneuter Fehlalarm.
Den Grund dafür suchte man später in einer seltenen Wolkenformation, welche das Sonnenlicht auf den Satelliten reflektierte - dieser Lichtblitz wurde als Start fehlinterpretiert.
Von der Welt vergessen
Die Sowjets beschlossen, diesen Vorgang um den Beinahe-Weltuntergang geheim zu halten.
Oberst Stanislaw Petrow wurde vor allem dafür getadelt, dass er in diesen nervenaufreibenden Minuten die Eintragungen im militärischen Tagebuch vernachlässigte.
Zu einer vorgesehenen Ordensverleihung kam es nicht. Denn dann hätten die Vorgesetzten und die einflussreichen Wissenschaftler, welche die Fehler des Systems und der Software zu verantworten hatten, bestraft werden müssen. Petrow quittierte seinen Dienst schon bald aus privaten Gründen.
Der Mann, der die Welt rettete, bezog eine ärmliche Rente und sammelte zum Überleben Kräuter im Wald.
Stanislaw Petrow: "Ich bin kein Held"
Erst weit nach dem Ende der Sowjetunion - etwa 1998 - wurde die Geschichte um den Helden Stanislaw Petrow weltweit bekannt.
In Russland erhielt er weiterhin keine Würdigungen, dafür von seinem ehemaligen Klassenfeind. Der Weltretter erhielt auch einige Preise, die sein Leben nun etwas erleichterten - darunter auch 2013 den mit 25.000 Euro dotierten Preis der Dresdner Semperoper.
Bei seinen Auszeichnungen wiederholte der bescheiden wirkende Mann immer wieder: "Ich bin kein Held. Ich war nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort." Er will einfach nur seine Arbeit gemacht haben. Dass er damit Millionen Menschen das Leben gerettet hat, wusste er schon.
Für den Friedensnobelpreis kam er dennoch nie in die engere Auswahl.
Danach wurde es wieder ruhig um Petrow. Er starb 2017 einsam in seiner Plattenbauwohnung, die Welt erfuhr dies erst mehrere Monate später.
Titelfoto: Montage: Stanislav Petrov, CC0, via Wikimedia Commons, dpa