In Leipzig lebender Afghane bangt um Familie und Freunde: "Einige verschwinden, andere werden erschossen"

Leipzig - Das Jahr 2021 war für die ganze Welt erneut eine Herausforderung. Doch während man sich in Europa im Sommer vom langen Corona-Winter erholte, erlebten die Menschen in Afghanistan die Hölle auf Erden, als die Taliban die Macht im Land übernahmen. TAG24 hat mit Feroz Nuranfar (38) aus Leipzig gesprochen – einem aus Kabul stammenden Doktoranden, der in der Sorge um seine Familie fast verzweifelt.

Feroz Nuranfar (38) lebt seit fast vier Jahren in der Messestadt, promoviert derzeit an der Uni Leipzig. Seine Familie lebt noch immer in Afghanistan.
Feroz Nuranfar (38) lebt seit fast vier Jahren in der Messestadt, promoviert derzeit an der Uni Leipzig. Seine Familie lebt noch immer in Afghanistan.  © Christian Grube

Wir alle erinnern uns an die Bilder, die im August um die Welt gingen – Tausende Menschen flüchteten zum Internationalen Flughafen in Kabul, manche von ihnen klammerten sich an die Flugzeuge, um den Taliban zu entkommen. Den neuen Machthabern in ihrem Land, denen Menschen- und vor allem Frauenrechte völlig egal sind.

Wer es nicht geschafft hat, in einem der letzten Flieger evakuiert zu werden, lebt seitdem ein Leben in Angst – vor allem, wenn man vorher schon einmal mit Organisationen aus westlichen Ländern zusammengearbeitet hat. Einer dieser Menschen ist Feroz Nuranfar – er lebt zwar in Deutschland, hat aber ständig Angst um seine Familie.

Eine Familie, die – egal ob Mann oder Frau – zum Teil aus Akademikern besteht. Die Mutter ist eine angesehene Ärztin in der rund 380 Kilometer nördlich von Kabul liegenden Provinz Takhar, aus der der 38-Jährige stammt; seine Schwestern sind Lehrerinnen.

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Aufgewachsen ist Feroz Nuranfar während des Krieges in Afghanistan. Als 16-Jähriger war er im Widerstand aktiv und hat selbst für wenige Monate gegen die Taliban gekämpft – gegen den Willen der Eltern. Damals habe es nicht viele Soldaten im Widerstand gegeben. "Wir als Schüler mussten Waffen in die Hand nehmen und unseren Staat schützen", sagt er heute. Seinerzeit hat er einige Klassenkameraden sterben sehen.

Nach der Schule hat er zuerst Deutsch als Fremdsprache in Kabul studiert, seinen Master von 2010 bis 2013 an der Universität Jena gemacht. Zurück in Kabul unterrichtete er Deutsch an der Uni und ist bis heute dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter angestellt. Seit 2018 arbeitet er im Bereich Kulturstudien an seiner Promotion am Herder-Institut der Uni Leipzig.

Nach der Machtübernahme der Taliban im vergangenen August versuchten Tausende Menschen aus ihrer Heimat zu entkommen. Die, die es nicht geschafft haben, sind zum Teil bis heute auf der Flucht – auch Feroz' Familie.
Nach der Machtübernahme der Taliban im vergangenen August versuchten Tausende Menschen aus ihrer Heimat zu entkommen. Die, die es nicht geschafft haben, sind zum Teil bis heute auf der Flucht – auch Feroz' Familie.  © -/AP/dpa

Feroz Nuranfar wollte immer nach Afghanistan zurück, um etwas zu verändern

Nach seinem Masterstudium an der Uni Jena ist Feroz 2014 nach Afghanistan zurückgekehrt...
Nach seinem Masterstudium an der Uni Jena ist Feroz 2014 nach Afghanistan zurückgekehrt...  © privat

Erst 2001 kehrte durch internationale Unterstützung ein wenig Ruhe im Land ein. "Diese letzten 20 Jahre war es in Afghanistan nicht zu einhundert Prozent sicher, aber es gab die Hoffnung, dass wir auch wie andere Länder in Demokratie leben können", beschreibt er die Jahre danach.

Doch bereits seit 2014, als sich erste Truppen zurückzogen, habe sich die Situation wieder verschlechtert. "Jeden Tag haben wir Selbstmordattentate erlebt und viele Tote und Verletzte auf der Straße gesehen", erinnert er sich zurück.

Er habe dennoch die Hoffnung nie aufgegeben, dass er helfen könne, etwas in seinem Land zu verändern. Auch deshalb ist er nach seinem Studium in Jena in seine Heimat zurückgekehrt.

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Als Feroz 2018 wieder nach Deutschland kam, um zu promovieren, stand schon fest, dass er auch danach wieder in sein Land zurückkehren wollte, doch das ist nun nicht mehr möglich. Weder für immer noch vorübergehend, um die für seine Promotion so wichtigen Daten zu erheben.

Denn er gehört zu den Menschen, die sich stets für Menschenrechte, Frauenrechte und die Rechte von Homosexuellen eingesetzt haben – das macht ihn in den Augen der Taliban zu einer "Persona non grata". Vermutlich würde er in Afghanistan nicht lange überleben.

... um als Deutschlehrer zu arbeiten. Auch an einer von der deutschen Bundeswehr unterstützten Polizeiakademie hat er unterrichtet.
... um als Deutschlehrer zu arbeiten. Auch an einer von der deutschen Bundeswehr unterstützten Polizeiakademie hat er unterrichtet.  © privat

Feroz' Schwager arbeitete als Ingenieur für den Staat und wurde von den Taliban ermordet

Sein täglicher Arbeitsplatz an der Uni Leipzig ist die Bibliotheca Albertina. Mittlerweile fällt es ihm...
Sein täglicher Arbeitsplatz an der Uni Leipzig ist die Bibliotheca Albertina. Mittlerweile fällt es ihm...  © Juliane Bonkowski

Den Kontakt zu seiner Familie, seinen Freunden und den Kollegen von der Uni sucht er fast jeden Tag. Die meisten von ihnen werden von den Taliban gesucht, doch obwohl sie seit August auf Evakuierungslisten eingetragen sind, wissen sie bis heute nicht, wann sie das für sie unsichere Land verlassen können.

Manche von ihnen haben keinen festen Wohnsitz mehr, weil die Terrorgruppe die Häuser ständig nach Menschen mit Verbindungen in den Westen durchsuchen. Sie führen ein Leben auf der Flucht – ein unwürdiges Leben.

Was passiert, wenn sie sie finden? "Sie nehmen diese Leute mit – einige werden einfach verschwinden, andere werden erschossen", so Feroz. Einer von jenen Leuten war sein Schwager. Als Ingenieur hat er mit der Polizei zusammengearbeitet und sollte einen Stützpunkt nahe Takhar bauen. Beim Betreten der Baustelle wurde er Ende 2020 aus mehreren Hundert Metern Entfernung von einem Scharfschützen erschossen.

Später hat seine Schwester, die Witwe des Opfers, einen Brief von den Taliban bekommen, dass ihr Mann erschossen worden war, weil er ein Ungläubiger gewesen sei. Sie wurde unter Todesdrohungen aufgefordert, sich der Terrorzelle anzuschließen – seitdem befindet sie sich auf der Flucht. Ohne Geld, denn arbeiten darf sie ja auch nicht mehr. "Sie können nicht zurück nach Takhar, um wieder ein normales Leben zu leben."

Oft fragt sich Feroz, wie es so weit kommen konnte, schließlich hatten die Taliban lange Zeit nicht solche modernen Waffen wie Panzer oder Hubschrauber. "Afghanistan wurde den Taliban einfach geschenkt" und damit auch geschätzt knapp 40 Millionen unschuldiger Menschen, lautet das Ergebnis seiner Grübeleien.

Möglich gemacht habe dies die internationale Politik – die USA hätte sich niemals auf einen Deal mit der Terrorgruppe einlassen dürfen. "Dadurch haben sie die Taliban noch stärker gemacht", wirft Feroz den Vereinigten Staaten vor.

Wie geht es jetzt für Feroz und seine Familie weiter?

... in seiner Sorge um seine Familie immer schwerer, sich auf seine Doktorarbeit zu konzentrieren. Die Taliban halten ihn für einen Spion, weshalb sich seine Familie in Afghanistan in großer Gefahr befindet.
... in seiner Sorge um seine Familie immer schwerer, sich auf seine Doktorarbeit zu konzentrieren. Die Taliban halten ihn für einen Spion, weshalb sich seine Familie in Afghanistan in großer Gefahr befindet.  © Christian Grube

Feroz hat versucht, mit dem Auswärtigen Amt Kontakt aufzunehmen, bislang ohne Erfolg. "Man weiß einfach nicht, wohin man sich wenden soll", ist der verzweifelte Mann ratlos. Auch weiß er nicht, wie es im kommenden Jahr für ihn selbst weitergehen soll.

Hat er nach Ablauf seines Stipendiums im kommenden Mai keinen festen Job, wird sein Visum nicht verlängert und er müsste zurück ins für ihn so gefährliche Afghanistan. Seine Promotion müsste er dann an den Nagel hängen.

Es ist – und das ist eigentlich noch völlig untertrieben – eine verzwickte Situation, in der sich Feroz Nuranfar befindet. Er fühlt sich wohl in Deutschland, aber: "Meine Zukunft ist dunkel und ich weiß nicht, was mit uns hier in Deutschland passiert. Wir können aber nicht einfach zurückgehen."

Schlimmer sei aber die Ungewissheit, was mit seiner Familie passiert. "Ich kann mein Studium für meine Familie opfern, aber ich kann ihnen nicht garantieren, dass ich sie aus der Situation befreien und nach Deutschland holen kann. Das ist sehr schwer für mich."

Anfang Dezember kamen schließlich erneut schlechte Nachrichten aus seiner Heimat. Weil die Taliban seinen in Deutschland lebenden Sohn für einen Spion halten, wurde Feroz' Vater in der vergangenen Woche entführt. Zwar hat man ihn wieder freigelassen, aber er und ein weiterer Sohn befinden sich nun ebenfalls auf der Flucht. Seine frühere Zugehörigkeit zu einer kommunistischen Partei macht die Situation zudem nicht leichter.

Eine letzte Hoffnung für den von Sorgen gebeutelten Mann ist die Initiative "Luftbrücke Kabul", die mithilfe von Spenden seit September mehr als 1000 Menschen aus Afghanistan evakuieren konnte. TAG24 hat sich mit den Verantwortlichen in Verbindung gesetzt und hofft, dass man Feroz und seiner Familie auf diesem Wege helfen kann.

Titelfoto: Christian Grube

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