"Einfach weggeprügelt": Heute vor zehn Jahren eskalierte der Protest gegen Stuttgart 21

Stuttgart - Das Foto, das ihn vor zehn Jahren schlagartig weltweit bekanntgemacht hat.

Stuttgart, 30. September 2010: Zwei Männer stützen im Schlossgarten den durch einen Wasserwerfer verletzten Dietrich Wagner. Das Foto ging um die Welt.
Stuttgart, 30. September 2010: Zwei Männer stützen im Schlossgarten den durch einen Wasserwerfer verletzten Dietrich Wagner. Das Foto ging um die Welt.  © picture alliance / dpa

Ein Bild, das wohl mitverantwortlich ist für die Abwahl einer Landesregierung. Das ihn zeigt - blutig, schwer verletzt und gestützt - und seit zehn Jahren für den Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 steht. 

Dieses Foto hat Dietrich Wagner nie klar und deutlich gesehen. Er, der Ingenieur im Ruhestand, hat an jenem Tag der Auflehnung gegen das Bauprojekt sein Augenlicht fast völlig verloren. 

Dennoch wird der heute 75-Jährige auch am Mittwochabend, zehn Jahre nach den Szenen aus dem Schlosspark, gegen den Bau des Tiefbahnhofs protestieren. Auch wenn er selbst nicht mehr an einen Erfolg glaubt, wie er zuletzt eingeräumt hat.

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Die Szenen damals haben die jüngere Stuttgarter Stadtgeschichte geprägt. Sie haben einen Untersuchungsausschuss nach sich gezogen und etliche Prozesse, eine Schlichtung, Entschädigungen und Rücktritte. 

Und dennoch wird genau dort, wo vor zehn Jahren die Wasserwerfer standen, wo die Menschen weinten, schrien und mehr als 160 Menschen verletzt wurden, weiter gebaut. In fünf Jahren soll der Tiefbahnhof eröffnet werden - trotz des "Schwarzen Donnerstags".

Ein Rückblick. Im Sommer 2010 gehen immer wieder Zehntausende Stuttgart-21-Gegner auf die Straße. Ganz Deutschland blickt auf die Schwabenmetropole und deren "Wutbürger", die gegen den Bau protestieren. 

Nach der Sommerpause erklärt der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) seinen Kritikern, er werde den "Fehdehandschuh" aufnehmen. Die Atmosphäre ist aufgeheizt wie nie. Als der Nordflügel des denkmalgeschützten Hauptbahnhofs Ende August 2010 abgerissen wird, werden die Stuttgart-21-Bauarbeiten für jeden sichtbar.

Friedliche Bürger "einfach weggeprügelt"

Wasserwerfer am "Schwarzen Donnerstag" in Stuttgart.
Wasserwerfer am "Schwarzen Donnerstag" in Stuttgart.  © picture alliance / dpa

Ende September 2010 soll der Mittlere Schlossgarten wegen der Baumfällarbeiten für das Bahnvorhaben geräumt werden. Ab dem 1. Oktober darf gerodet werden, und es ist klar, dass das Grünstück nun abgesperrt wird. 

Der Druck ist groß auf die Regierung, die mitten im Wahlkampf steckt. Nur zwei Wochen zuvor hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Zusammenhang mit Stuttgart 21 von einem Maßstab für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands gesprochen.

Dort, im Park, wo normalerweise Eltern ihre Kinderwagen schieben, wo Jogger an Biergarten und Planetarium vorbeilaufen, strömen am 30. September 2010 rund 1500 Schüler in den Park, um sich gegen das Fällen der Bäume zu wehren. 

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Aber es marschieren auch Polizisten in schwerer Montur auf. Sie traktieren Demonstranten mit Schlagstöcken und Pfefferspray, Wasserwerfer schießen auf Menschen am Boden und in Bäumen. 

"Ich habe gedacht, hier ist der Krieg ausgebrochen", sagte einer der Teilnehmer, ein Rentner, danach. Und um die Welt ging das Foto des Rentners Wagner, der aus den Augen blutete.

Der "Schwarze Donnerstag" war der Höhepunkt des Konflikts um den mittlerweile bis zu acht Milliarden Euro teuren Neubau des Bahnknotens Stuttgart. Für viele der damals Betroffenen war die Eskalation Startschuss für lang andauerndes Engagement. Für andere war es das Ende. 

"Da wurden normale und friedliche Bürger, die sich das erste Mal auflehnten, einfach weggeprügelt", erinnert sich Matthias von Herrmann, Sprecher der sogenannten Parkschützer. "Das hat viele von ihnen traumatisiert."

Bei den Gegnern herrscht nach wie vor die Überzeugung, dass der harte Polizeieinsatz nicht ohne Rückendeckung der S21-freundlichen Mappus-Regierung stattfinden konnte. Zehn Jahre nach dem folgenschweren Einsatz sieht das der frühere Stuttgarter Polizeipräsident Siegfried Stumpf ganz anders, wenngleich auch er nicht mit Vorwürfen spart.

Nach dem "Schwarzen Donnerstag" siegen die Grünen

Stefan Mappus, der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg.
Stefan Mappus, der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg.  © Marijan Murat/dpa

Die damalige Politik habe die Polizei in der Auseinandersetzung mit den Demonstranten allein gelassen, sagt er. "Sie haben von der Politik - sowohl von den Befürwortern als auch von den Gegnern - niemanden gesehen", kritisiert Stumpf im SWR weiter. 

Den Abschlussbericht des Innenministeriums zum "Schwarzen Donnerstag" hält er für "unsachlich" und "unprofessionell".

Stumpf war nach dem Polizeieinsatz in den vorzeitigen Ruhestand gegangen. 2015 akzeptierte er einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung.

Nach dem Protest folgte die Schlichtung mit Moderator Heiner Geißler, mit deren Ergebnis die S21-Kritiker noch heute hadern. 

Aber es folgte mit der Zäsur des "Schwarzen Donnerstags" auch der historische Wahlsieg der Grünen unter Winfried Kretschmann im März 2011 - nach mehr als 50 Jahren CDU-Vorherrschaft. Ministerpräsident Mappus musste gehen. "Damals, bei den Wasserwerfern, war mir bereits klar, dass die Landesregierung mit diesen Bildern nicht durchkommt, dass dieser Tag massive Folgen haben wird", sagt Parkschützer von Herrmann.

Und auch juristisch bekamen die S21-Gegner recht: Der eskalierte Polizeieinsatz führte zu Untersuchungsausschüssen im Landtag und beschäftigte Gerichte. Das Verwaltungsgericht Stuttgart erklärte den Einsatz im November 2015 für rechtswidrig. Beim Protest gegen die Baumrodungen im Schlossgarten habe es sich um eine vom Grundgesetz geschützte Versammlung gehandelt. 

Ministerpräsident Kretschmann entschuldigte sich bei Opfern

Für Winfried Kretschmann war der 30. September 2010 ein "schwerer Einschnitt".
Für Winfried Kretschmann war der 30. September 2010 ein "schwerer Einschnitt".  © Sebastian Gollnow/dpa

Die Polizei habe "mit Kanonen auf Spatzen geschossen". Daraufhin entschuldigte sich Ministerpräsident Kretschmann bei den Opfern, von denen einige wie Wagner Entschädigungen zugesprochen bekamen.

Auch Mappus erkennt beim Blick zurück Fehler im Umgang mit dem Bahnprojekt. Seine Regierung sei damals "ratlos" gewesen, räumte er viele Jahre später in einem Interview mit dem Südkurier ein. Er habe das Gespräch mit seinen Amtsvorgängern gesucht, "weil wir alle gemerkt haben: Da passiert irgendetwas, das es so noch nie gegeben hat und das aus dem Ruder läuft".

Mappus kann sich nicht erklären, wie sich die Situation rund um den geplanten Bau derart hochschaukeln konnte. 

"Wir hatten nicht die Absicht, ein Atomkraftwerk mitten in der City zu bauen", sagte der CDU-Mann nach einem Bericht von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten bei einer Veranstaltung in Stuttgart. "Es ging immer nur um einen Hauptbahnhof."

Heute nennt sein Nachfolger im Amt den Tag des Protestes einen "schweren Einschnitt". Man habe damals den Weg verlassen, den man sonst im Umgang mit Demonstranten gepflegt habe, sagt Kretschmann. Doch seien Lehren daraus gezogen worden. Aus solchen Irrtümern müsse man lernen. "Ich denke, das haben wir auch gemacht."

Was folgte nach dem Crash im Schlossgarten, war aber auch der Nackenschlag für die S21-Gegner mit der Volksabstimmung, bei der sich eine deutliche Mehrheit der Baden-Württemberger für den Weiterbau aussprach.

Und gingen zu Hoch-Zeiten rund um den "Schwarzen Donnerstag" noch Tausende auf die Straße, so sind es heute Montag für Montag nur noch wenige Hundert. Auch am Mittwoch, zum zehnten Jahrestag, werden sie zusammenkommen.

Unter ihnen auch Dietrich Wagner, in der Hand ein Blindenstock, zwei gelbe Binden an den Armen.

Titelfoto: picture alliance / dpa

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