Nach fünf Jahren auf der Straße: Obdachloser Alkoholiker kämpft sich ins Leben zurück
Stuttgart - Thomas Schuler lebte fünf Jahre auf der Straße, schlug sich mit Gelegenheitsjobs und reichlich Alkohol durch die Tage und Nächte - im Sommer, wie im Winter - bei Sonnenschein und Schnee. Er hat mit der Straßenzeitung "Trott-war" einen Weg zurück ins Leben gefunden. TAG24 hat mit ihm persönlich gesprochen.
Rückblick: Thomas Schuler führt ein geregeltes Leben, hatte eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Freiburg und arbeitet als Koch. Er ist Alkoholiker. Nach einem Streit mit seinem Chef geht der gelernte Koch zur Bank, hebt 1.400 Mark ab und geht in seine Stammkneipe.
"Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe von Freiburg auf einer Parkbank vor der Leonhardskirche in Stuttgart aufzuwachen", sagt Thomas Schuler.
Mit zwei Mark in der Tasche und der Erkenntnis, dass er ohne Geld nicht so leicht wieder weg kommt, setzt er sich in die Nähe des Bahnhofs. "Ich sah aus wie ein Häufchen Elend", berichtet er.
Da gesellte sich ein Mann neben ihn, dem er seine ganze Geschichte erzählt - von dem Ärger mit seinem Chef, vom Alkohol, von dem fehlenden Geld.
Der antwortete: "Mach dir nichts draus, trink einen großen Schluck aus meiner Pulle Korn und die Welt ist wieder in Ordnung", sagte der fremde Freund.
"Und das war sie - fünf Jahre", berichtet Schuler. Fünf Jahre lebte er auf der Straße, bettelte, trank und überlebte. Als Tagelöhner im Gerüstbau, der Müllabfuhr oder als Betonbauer verdiente er sich das nötige Geld für den Alkohol. Und wenn er es nicht zusammenbekam, klaute er in Supermärkten.
Einige Zeit schlug er sich mit seinem neuen Bekannten durch, später alleine. Alkohol war sein ständiger Begleiter. "20 Jahre hab ich gesoffen, wie ein Loch". Eine Ärztin sagte zu ihm mit 34 Jahren, wenn er so weiter mache, überlebe er das nächste Jahr nicht. Die Alkohol-Karriere begann früh: Mit 13 trank der Mann mit dem Schnauzer das erste Mal. Abgeschaut hatte Schuler sich dies von seinem alkoholkranken Vater. Es begann abends mit Bier. Später kippte er bereits morgens Jägermeister in den Kaffee.
Die Straße schlägt mit voller Härte zu
Das Leben auf der Straße ist hart. Schuler schlief die meiste Zeit draußen - auf dem Boden, in Ecken und Nischen. "Notunterkünfte waren nicht mein Ding". Dort sei es laut, viele Menschen auf engem Raum, die Gerüche extrem und es werde viel geklaut.
Noch heute stellt sich Schuler immer mit dem Rücken zur Wand, eine Angewohnheit aus den Tagen auf der Straße, "damit einem keiner ein Messer in Rücken rammen kann". Obdachlose leben gefährlich: Draußen sind sie mit ihren wenigen Habseligkeiten an ihren entlegenen Schlafplätzen Dieben und Gewalttätern schutzlos ausgeliefert. Eines Tages wurde er, so berichtetet der Mann mit der Halbglatze und dem blauen Kapuzenpullover, von sieben Männern zusammengeschlagen.
"Obdachlose treten gehen manche vor der Disco". Die jungen Männer brachen ihm Rippen, schlugen ihm die Zähne aus. Einer trat dem wehrlosen Mann am Boden mit seinem Schuh mitten ins Gesicht."Ich war danach viereinhalb Monate im Krankenhaus."
Es sollte nicht der einzige Schicksalsschlag bleiben. Eines Morgens wachte er neben einem Bekannten an einem kühlen Herbsttag auf. Dieser bewegte sich nicht mehr, atmete auch nicht. "Der war wahrscheinlich erfroren", sagt der Mann mit den hellblauen Augen.
Nach fünf Jahren Obdachlosigkeit bekam Schuler ein Zimmer in einem betreuten Wohnen, doch er suchte immer wieder die Nächte auf der Straße: "Wer auf der Straße schläft, ist den harten Boden gewöhnt, ein Bett war wie eine Karussell-Fahrt", erzählt er.
Der heute 54-Jährige gewöhnte sich wieder an ein Bett und heute würde er es nicht mehr missen wollen. Im betreuten Wohnen lernte er seine Frau Iris kennen, die sich bald ihr Geld mit dem Verkauf des "Trott-war" verdiente. Vier Wochen später begann er auch als Verkäufer - zehn Zeitungen bekam er als Startkapital, danach musste er die Zeitungen vorfinanzieren. "
Schuler hat es geschafft - einen Entzug gemacht, ist trocken, hat eine Wohnung und inzwischen fest angestellt. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt als Stadtführer mit rund 30 Führungen pro Monat, bei dem Interessierte Plätze von Obdachlosen, Suchthilfe-Einrichtungen und Brennpunkte kennenlernen, und weiterhin als Verkäufer des "Trott-war". Außerdem ist er Verkäufersprecher und setzt sich auch für die Belange der anderen Verkäufer ein.
"Hätte ich "Trott-war" nicht kennengelernt, wäre ich rückfällig geworden und würde nicht mehr leben", sagt Schuler. Das war für ihn ein neuer Start ins Leben. Der Verein hat ihn "als Mensch" behandelt. Das Schlimmste auf der Straße war für ihn nicht beachtet zu werden und dass man nicht dazu gehört. "Ich gehöre jetzt wieder zum System und zahle Steuern", erzählt er.
Bei minus drei Grad in einer zugigen Unterführung
Stuttgart: Unterführung Rathaus, minus drei Grad, es zieht durch den langen Beton-Gang.
Aus seinem blauen Rucksack holt Schuler eine rote Weste mit der Aufschrift "Trott-war" aus und bindet sie um sich herum. Mit der anderen Hand mit den Fingerlingen greift er einen Stapel Zeitungen.
Freundlich grüßt er die Menschen, die hastig auf ihrem Weg zu Arbeit an ihm vorbei eilen. Manche lächeln ihn an, andere schauen schnell weg, um nicht doch eine Zeitung kaufen zu müssen.
Die Straßenzeitung "Trott-war" wird in einer Auflage von durchschnittlich 30.000 Exemplaren gedruckt und erscheint monatlich. Zusätzlich gibt es gelegentlich Sonderausgaben. Die Cover suchen übrigens die 150 Verkäufer selbst aus, denn sie sind es, die wissen, wie sie am besten verkaufen.
Helmut Schmid, Geschäftsführer des "Trott-war" ist von der ersten Stunde an dabei und hat das Konzept entwickelt. Besonders stolz ist er darauf, dass sich die Straßenzeitung ohne öffentliche Gelder finanziert. Begeistert von der Idee war er sofort.
Nach einem Jahr ehrenamtlicher Tätigkeit, kündigt Schmid seinen Job in einer stadtbekannten Redaktion, um für ein Viertel seines Gehalts für den "Trott-war" zu arbeiten und das inzwischen seit 25 Jahren. "Geld ist nicht alles", sagt Schmid. Es ist sein Lebenswerk. Inzwischen hat der Verein 16 festangestellte Mitarbeiter, die nun nicht mehr von Sozialleistungen abhängig sind. "Wir wollen sozial-benachteiligte Menschen in Lohn und Brot bringen". Vor einiger Zeit seien es noch 20 gewesen, zwei Mitarbeiter sterben durchschnittlich pro Jahr, berichtet Schmid. "Das Leben auf der Straße macht krank". Für ihre Mitarbeiter hat der Verein sogar eine eigene Grabstätte auf dem Friedhof, denn Beerdigungen sind teuer.
"Trott-war" ist nicht nur Arbeitgeber, sondern sorgt sich auch um die Bedürfnisse ihrer Verkäufer. Zehn Wohnungen kann der Verein an seine Mitglieder vermitteln, es gibt kostenloses Frühstück und medizinische Hilfen, wie Zahnersatz oder Brillen.
Der eisige Wind zieht durch die Passage, Schuler zupft sich die Mütze tiefer in sein Gesicht, schüttelt sich und sagt "Junge, ist das zapfenkalt". Er zieht die rote Weste vom Körper, faltet sie sorgsam zusammen und steckt sie mit dem Stapel Zeitungen zurück in seinen Rucksack. An diesem Morgen steht Schuler umsonst - keine einzige Zeitung wird ihm abgekauft. Er reibt sich die Hände und sagt er muss sich aufwärmen - einen Kaffee trinken. Manchmal läuft es gut, da verkauft er 30 Stück in ein paar Stunden, an anderen Tagen steht er zehn bis zwölf Stunden im Regen und bekommt nur zwei Exemplare an den Mann oder die Frau.
Mit seiner Festanstellung verdient er oberhalb des Mindestlohns, bekommt ein 13. Gehalt und kann eigenständig davon leben. Er hält sich für reich: "Ich habe eine Frau, eine Wohnung, Arbeit, die mir Spaß macht und einen Hund."
Eigentlich wollte der Ex-Obdachlose die Arbeit beim "Trott-war" nur als Übergang nutzen - nun ist er seit 13 Jahren dabei. Inzwischen hat er seinen Platz nach Freiberg am Neckar verlegt und sich hier mit seiner freundlichen Art seine Stammkundschaft aufgebaut. "Ich gönn dem Trott-war noch 100 Jahre, aber 13 muss er noch bis zu meiner Rente", sagt er mit seinem verschmitzten, nicht ganz ernst gemeinten Lachen.
Die Straßenzeitung feiert dieses Jahr ihr 25. Jubiläum.
Titelfoto: TAG24