Schon wieder! Radstars attackieren eigenen Teamkollegen
Ribadesella (Spanien) - Es ist ein absolutes Novum, was gerade bei der spanischen Rundfahrt La Vuelta passiert. Der Gesamtführende, Sepp Kuss (29, Jumbo-Visma/USA), wird von seinen eigenen Teamkollegen attackiert.
Sepp Kuss war es, der Primož Roglič (33, Slowenien) beim diesjährigen Giro d'Italia zum Sieg verhalf. Er war der wichtigste Helfer des Slowenen.
Sepp Kuss war es auch, der Jonas Vingegaard (26, Dänemark) bei der diesjährigen Tour de France zum Sieg verhalf. Er opferte sich für den Dänen auf, wie kein Zweiter.
Jetzt fahren die Drei zusammen die La Vuelta, die Spanien-Rundfahrt. Auf der sechsten Etappe am 31. August gelang es Sepp Kuss die Ausreißergruppe zu besetzen, aus der er sich kurz vor Schluss absetzen konnte.
Es reichte, um das Rote Trikot des Gesamtführenden zu übernehmen (wie das Gelbe Trikot bei der Tour de France), welches er seitdem nicht mehr hergab.
Auf der schweren 13. Etappe auf den 2115 Meter hohen Tourmalet am vergangenen Freitag dann aber das Novum: Jonas Vingegaard, also sein Teamkollege, fuhr aus der Gruppe des Gesamtführenden weg und holte den Sieg.
Sepp Kuss attackierte seine Konkurrenten und konnte so den Abstand zu Vingegaard klein halten und im roten Trikot bleiben.
Roglič kam kurz dahinter ins Ziel. Zum Ende der Etappe waren die ersten Drei im Gesamtklassement Kuss, Roglič und Vingegaard. Alle Fahrer des niederländischen Teams Jumbo-Visma.
Sepp Kuss ist stärker als die Fahrer alle anderen Teams
Das Team ist restlos überlegen. Erst mit 2 Minuten Rückstand hinter Kuss fand sich nach der 13. Etappe mit Juan Ayuso (20, UAE Team Emirates/Spanien) auf Platz vier ein Fahrer, der nicht zu Jumbo-Visma gehört.
Aber das Team scheint nicht daran zu denken, ihren treuen Helfer Kuss zum Sieg der Vuelta zu verhelfen. Denn am Dienstag ergriff Vingegaard erneut die Initiative.
Am 4,9 Kilometer langen Schlussanstieg der 16. Etappe fuhr der Däne alle in Grund und Boden und verkürzte auf Kuss auf nur noch 30 Sekunden und schob sich im Gesamtklassement auf Platz zwei, vor Roglič.
Auf der 17. Etappe am heutigen Mittwoch erneut: Die pure Jumbo-Visma-Dominanz. Zu Dritt fahren Kuss, Roglič und Vingegaard allein dem Feld davon, aber für Kuss war das Tempo zu hoch: Roglič und Vingegaard fahren eine Lücke auf, drehen sich nicht mal um und lassen ihren Teamkollegen einfach zurück, der immer noch Gesamtführender ist!
Kuss hängt sich an das Hinterrad von Mikel Landa (33, Bahrain-Victorious/Spanien) und kommt schlussendlich doch als Dritter ins Ziel und kann den Zeitverlust auf 19 Sekunden auf seine Teamkollegen begrenzen. Es sah sogar so aus, als habe Landa Kuss an der Ziellinie den Vortritt gelassen, damit der 29-Jährige noch die Bonussekunden kassiert. Wenigstens einer dachte an ihn.
Roglič gewann die Etappe. Der zweitplatzierte des Tages Vingegaard ist nur noch 8 Sekunden vom US-Amerikaner im Gesamtklassement entfernt.
Besonders bemerkenswert: Die Frau von Roglič, Lora Roglič (32), likte einen Post auf Instagram, in dem ihr Mann und das Team Jumbo-Visma scharf für ihr Verhalten gegenüber Kuss kritisiert wurde. Der Instagram-Account von Lora (18.300 Follower) ist zurzeit auf privat geschaltet.
Auf Social Media brennt die Luft. Warum lässt es das Team zu, dass ohne Not der eigene Fahrer im Gesamtklassement von seinen Teamkollegen bedrängt wird? Juan Ayuso, immer noch auf Platz vier liegend, hat mittlerweile vier Minuten Rückstand auf Sepp Kuss.
Jonas Vingegaard und Primož Roglič lassen Sepp Kuss alleine zurück
Das Team versuchte auf Twitter und Instagram klarzumachen, dass Kuss selbst gesagt haben soll, dass die anderen ruhig fahren können.
"Go Guys" (Deutsch: "Gebt Gas, Jungs"), habe Kuss demnach über den Team-Funk gemeldet.
Klar sagt er das. Der Radstar gilt als ein wahnsinnig netter Mann, der sich stets für das Team aufopfert. Die Radsportwelt scheint sich einig zu sein, dass es ein absolutes Unding ist, dass das Team Roglič und Vingegaard nicht dazu verdonnerte, Kuss zu helfen, der eindeutig das Zeug dazu hat, die Vuelta zu gewinnen, wenn seine zwei Teamkollegen nicht wären, denen beiden er zuvor zu großen Siegen verhalf.
Auf Twitter teilte das Team seine Freude darüber, dass Kuss immer noch das Rote Trikot des Gesamtführenden trägt. Aber ist es das erklärte Ziel des Teams? Offenbar nicht.
Klar, das Argument gilt auch: Es ist ein Radrennen. Wenn jemand schneller fahren kann, kann er das tun. Aber es ist auch ein Teamsport und die Rolle als Helfer von Sepp Kuss bei der Tour de France oder dem Giro bestand darin, nicht schneller als sein Kapitän zu fahren - auch wenn er es könnte.
Übrigens: Sepp Kuss hatte am Mittwoch Geburtstag. Mikel Landa war scheinbar der Einzige, der ihm ein Geschenk machte.
Titelfoto: Bildmontage: MIGUEL RIOPA / AFP, MIGUEL RIOPA / AFP