Olympia 1972: Als die DDR mit Sportspionage olympisches Gold abräumte
München/Augsburg/Zwickau - Da wo einst die DDR ihre Goldathleten ausbildete, wuchern heute Bäume und Sträucher. Die Kanuslalom-Strecke bei Zwickau, die den Ostdeutschen vor 50 Jahren bei den Olympischen Sommerspielen in Westdeutschland vier Mal Gold einbrachte, ist nur noch eine Ruine. Dabei war die Betonrinne einst das Ergebnis einer der ungewöhnlichsten Sportspionage-Geschichten zwischen Ost und West.
Denn für die DDR hatten die Spiele 1972 in München eine ganz besondere Bedeutung. Nachdem die deutschen Sportler aus Ost und West zunächst nach dem Krieg mit einer gemeinsamen Mannschaft antraten, wurde die DDR 1968 erstmals bei Olympia eigenständig geführt.
Doch erst vier Jahre später bei den Münchner Spielen durften die Ostdeutschen auch die eigene Flagge und Hymne verwenden.
Damit die Sportler entsprechend erfolgreich sind, betrieb die DDR großen Aufwand. "Die DDR-Führung betrachtete in ihrem Bemühen um internationale Anerkennung ihre Athleten gerne als 'Diplomaten im Trainingsanzug'", heißt es in einem Internet-Dossier des Stasi-Unterlagen-Archivs über Olympia '72.
"Diese sollten nun ausgerechnet in der Bundesrepublik die Welt von der Überlegenheit des Sozialismus überzeugen."
Dies führte dazu, dass die für die olympischen Wettkämpfe in Augsburg gebaute erste künstliche Kanuslalom-Strecke der Welt systematisch ausspioniert und in der DDR sogar nachgebaut wurde, damit die Ostathleten ideale Trainingsbedingungen haben. Denn die DDR-Kanuten hatten ein Problem mit der Augsburger Strecke, dem sogenannten Eiskanal.
Bis dahin fand der Sport ausschließlich auf natürlichen Wildwasserstrecken statt. Die Kanuten bemerkten, dass sich das Wasser in dem Betonkanal in Augsburg ganz anders verhielt. Die Ostdeutschen befürchteten, durch den Heimvorteil der West-Sportler, die in Augsburg trainieren konnten, abgehängt zu werden.
DDR-Kanutrainer Werner Lempert: "Wir kamen gar nicht zurecht"
Bei einem Vorwettkampf 1971 in Bayern schnitten die DDR-Sportler in der neuartigen Rinne eher mau ab. "Wir kamen gar nicht zurecht", erinnerte sich DDR-Kanutrainer Werner Lempert im Jahr 2012 in einer Sendung des BR-Fernsehens an den damaligen Wettkampf.
Die zwei in Augsburg errungenen vorolympischen Bronzemedaillen seien für die Ansprüche der Ostdeutschen viel zu wenig gewesen.
Damit die DDR-Teilnehmer sich optimal auf das olympische Ereignis vorbereiten können, hatte Lempert die Idee, die schwäbische Wettkampfstrecke bei Zwickau einfach zu kopieren. Mit einem Gästeausweis, einem 50-Meter-Maßband und einer Kamera begann Lempert in Augsburg damit, eigene Pläne des Eiskanals anzufertigen, um hinter das Geheimnis der Hindernisse im Wasser zu kommen.
"Wir haben das versucht, in Zwickau in ähnlicher Form nachzubauen", sagte Lempert. In drei Monaten wurde das Projekt an der Mulde von einer Autobahnbau-Kolonne in der Winterzeit verwirklicht.
Die Zwickauer Strecke entsprach zwar nur etwa einem Drittel des 660 Meter langen Originals - aber das reichte.
Nach Olympia: Oststrecke und westliches Original erleben zwei völlig unterschiedliche Geschichten
Die Ostathletin Angelika Bahmann (70) berichtete vor fünf Jahren in einer Fernsehdokumentation des MDR, wie sie sich in Zwickau auf die ungewöhnliche Strömung der Olympiastrecke vorbereiten konnte: "Es war nicht die Länge von Augsburg, aber dieses kleine Teilstück hat uns eigentlich schon geholfen, um mit diesem Gequirle klarzukommen", sagte Bahmann, die damals als amtierende Weltmeisterin in die Bundesrepublik fuhr und dann auch den olympischen Sieg holte.
Denn die Sportspionage des DDR-Kanuverbands hatte letztlich vollen Erfolg: die DDR-Kanuten räumten alle vier Goldmedaillen in Augsburg ab.
In dem Buch "Olympia 1972", herausgegeben von ZDF-Sportjournalist Harry Valérien (†88), wurde bereits kurz nach den damaligen Wettbewerben anerkennend bilanziert: "Die großen Sieger beim schwindelnden Tanz auf schäumendem Nass waren die Asse der DDR, für die sich die Imitation des Augsburger Kurses auf der Mulde bei Zwickau voll ausgezahlt hat."
Nach Olympia erlebten die Oststrecke und das westliche Original zwei völlig unterschiedliche Geschichten. Die Augsburger Kanuanlage steht heute unter Denkmalschutz und ist auch nach einem halben Jahrhundert noch das Leistungszentrum für Deutschlands Top-Kanuten. Die Strecke wurde zuletzt für fast 21 Millionen Euro modernisiert, vom 26. bis 31. Juli sollen dort die Kanuslalom-Weltmeisterschaften stattfinden.
Die Ruine der Zwickauer Strecke modert hingegen seit langer Zeit vor sich hin und ist inzwischen zu einem Biotop geworden.
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