Die mieseste WM aller Zeiten! Vor 60 Jahren begann ein denkwürdiges Turnier
Chile - Allein in der Vorrunde flogen 50 Spieler verletzungsbedingt aus dem Turnier. Vor genau 60 Jahren begann in Chile eine Fußballweltmeisterschaft, die als die unfairste, brutalste, spielerisch schlechteste, torärmste und am miesesten besuchte in die Annalen einging.
Grund war die lähmende Defensivstrategie nahezu aller Teams.
Negativer Höhepunkt der WM 1962 war die "Schlacht von Santiago" zwischen Gastgeber Chile und Italien - der "Weltkrieg der Fußtritte" war das brutalste WM-Spiel der Geschichte. Es wirkt bis heute auf allen Fußballplätzen nach.
Der Offensivfußball der 1950er-Jahre war für Fans ein Hochgenuss.
Die Teams lieferten sich einen offenen Schlagabtausch, geniale Einzelspieler drückten dem Spiel mit ihrer Brillanz den Stempel auf. Und es fielen reichlich attraktive Tore. Mit Beginn der 60er änderte sich das schlagartig. Es brach die hohe Zeit des Catenaccio ("Türriegel") an.
Das war eine robuste Defensivstrategie, die darauf ausgelegt war, weniger Tore als der Gegner zu kassieren. Mit schnellem Offensivspiel hatte man keine Chance, die verengten Räume zu knacken. Also musste der Angreifer die Brechstange herausholen, hart in die Zweikämpfe gehen. Drohende Konter wurden oft nur durch Fouls unterbunden.
Defensive ist Trumpf auf dem Spielfeld
So hässlich, langweilig und unattraktiv der Catenaccio auch für die Fans war - er brachte den Erfolg.
Die Trainer der beiden Mailänder Vereinsmannschaften AC und Inter hatten den von einem Österreicher erfundenen "Schweizer Riegel" perfektioniert und prägten nun eine Ära.
Im Turnier spielten die Deutschen ausgerechnet mit Italien, der Schweiz und Chile in einer Gruppe. Auch Sepp Herberger, der Wundermacher von Bern, wählte den Defensivansatz, was das Ende seiner Karriere einläutete. Alle Teams - außer dem späteren Sieger Brasilien - übten sich mehr in Tritten und Remplern als in gepflegter Ballbehandlung.
Und so kam es in der deutschen Gruppe zum skandalösesten Spiel der Geschichte zwischen Chile und Italien.
Der völlig überforderte englische Schiedsrichter Ken Aston wird nach Abpfiff sagen: "Ich habe kein Fußballspiel gepfiffen, ich war der Obmann eines Militärmanövers." Es war Krieg auf dem Platz, doch der hatte eine traurige Vorgeschichte.
Chile hatte zwei Jahre vor dem Turnier ein schweres Erdbeben überlebt
Zwei Jahre vorher erlitt Chile das global schwerste Erdbeben des 20. Jahrhunderts, dem ein Tsunami, verheerende Erdrutsche, Überschwemmungen und Vulkanausbrüche folgten.
Das Land lag in Trümmern, zwei Millionen Obdachlose kämpften verzweifelt ums tägliche Überleben.
Diese Tragödie hinderte zwei italienische Journalisten nicht daran, Santiago in einem feindseligen Artikel als "verarmte Müllkippe voller Prostituierten" zu bezeichnen und die Moral des Landes zu diskreditieren. Chilenische Medien griffen das natürlich auf - bei diesem Spiel ging es um die Ehre eines ganzen Landes.
Schon zwölf Sekunden nach Anpfiff gab es das erste brutale Foul.
Nach acht Minuten sprach der Schiri einem Italiener einen Platzverweis aus. Weil der das nicht verstehen wollte, musste er schließlich von der Polizei vom Platz geholt werden. Es war die Initialzündung. Den Spielern - auf beiden Seiten - brannten nun sämtliche Sicherungen durch:
Die WM 1966 in England ließ das Turnier in Chile in Vergessenheit geraten
Es dauerte nach Ballfreigabe immer nur wenige Sekunden, dann wurde irgendwo getreten, gespuckt, geohrfeigt. Rudelbildungen und Spielunterbrechungen prägten das Geschehen.
Die Tritte trafen Glieder, Rümpfe, Köpfe - nach einem weiteren Platzverweis waren die Azzurri nur noch neun.
Auch die Chilenen hätten Platzverweise zur Genüge verdient - etwa für einen linken Haken, der dem Gegner das Nasenbein zertrümmerte. In den letzten Minuten wurde die Polizei mehrfach auf den Platz geschickt, um die Massenschlägereien zwischen den Spielern zu schlichten. Dem Publikum war es recht - Chile war mit 2:0 rehabilitiert.
Die Deutschen gewannen zwar diese Gruppe, flogen kurz darauf aber gegen Jugoslawien aus dem Turnier.
Obwohl das Finale Brasilien gegen Tschechoslowakei (3:1) noch halbwegs sehenswert war, zweifelte die Fifa wirklich ernsthaft, ob sie weiterhin Weltmeisterschaften austragen sollte.
Doch mit England 1966 gab es wieder eine überzeugende Veranstaltung.
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