Ohne Lippen kein Lesen: Wer nicht hören kann, hat gerade schlechte Karten
Deutschland - Als wäre ihr Alltag mit gedämpften Geräuschen oder in absoluter Stille nicht schon schwierig genug zu meistern, kämpfen seit der Corona-Pandemie Schwerhörige auch noch mit neuen Problemen.
Normalerweise hilft ihnen das Ablesen von den Lippen beim Verstehen. Doch die sind wegen der Mund-Nase-Masken-Pflicht in Geschäften, Restaurants und Verkehrsmitteln derzeit verdeckt. Nur spezielle Maskenarten können Abhilfe schaffen.
Doch Corona bringt auch bei vielen vermeintlich gut Hörenden jetzt plötzlich eine noch unerkannte Schwerhörigkeit zum Vorschein - warum? Und woran kann man erkennen, ob man selbst auch betroffen ist?
"Durch die Stoffmasken wird viel Schall weggeschluckt", klagt Angela Knölker (62). Die Dresdner Hausfrau und Mutter von vier Kindern ist eigentlich taub, kann aber mithilfe eines implantierten Cochlea-Hörgerätes dennoch Gesprochenes verstehen und Geräusche hören.
Das ging jahrelang gut - bis Corona kam. "Besonders bei ärztlichen Untersuchungen, wo es auf jeden Satz ankommt, sind die Worte durch das Mundschutz-Hindernis jetzt kaum mehr zu verstehen." Zudem wird die Maskentragepflicht in Geschäften oder im öffentlichen Verkehr zunehmend zum Problem.
"Viele unserer derzeit 40 Mitglieder der Cochlea-Implantat-Selbsthilfegruppe sind darauf angewiesen, auch vom Mund abzulesen. Wenn die Lippen jedoch durch eine Maske verdeckt sind, verstehen sie praktisch überhaupt nichts mehr", sagt Knölker. "Oft kann ich Gespräche jetzt nur mithilfe eines Punktmikrofons verfolgen." Denn keiner fragt beim Bäcker oder im Supermarkt zigmal nach, doch bitte lauter zu sprechen, um am Ende trotzdem nichts zu verstehen.
Schwerhörigkeit muss frühzeitig erkannt und behandelt werden
"Hilfreich ist in diesem Dilemma zum Beispiel ein Mund-Nasen-Schutz mit Sichtfenster, durch das die Mundbewegungen gut zu sehen sind", empfiehlt Prof. Marcus Neudert (46), Geschäftsführender Oberarzt der Hals-Nasen-Ohren-Klinik am Dresdner Uniklinikum. "Man kann auch spezielle Plastik-Schutzvisiere oder Plexiglasscheiben für eine barrierefreie Kommunikation nutzen."
Corona bringt zudem auch eine versteckte Schwerhörigkeit bei Menschen ans Licht, die vermeintlich gut zu hören glauben. "Wer derzeit wegen der Schall- und Frequenzdämpfung der Masken weniger gut versteht, sollte sich vorsorglich bei einem HNO-Arzt zum Hörtest anmelden", rät Prof. Neudert.
"Aus Untersuchungen wissen wir, dass zwei Drittel der Schwerhörigen glauben, besser hören zu können, als der Test am Ende wirklich belegt."
Schwerhörigkeit muss frühzeitig erkannt und behandelt werden, damit keine Hör-Entwöhnung eintritt. "Denn mit dem Hören ist es wie bei Muskeln. Wenn man nicht trainiert, bauen sie ab", sagt Prof. Neudert.
Kleiner Test: Wenn man Radio oder Fernseher für das Empfinden anderer im Raum zu laut aufgedreht hat, kann das ein erstes Anzeichen für eine beginnende Schwerhörigkeit sein. Gefährdet ist auch, wer bei Umgebungslärm oder Stimmengewirr seinen Gesprächspartner nicht mehr verstehen kann - der sogenannte Cocktail-Party-Effekt.
Meist ist jedoch ein durch verkrusteten Ohrenschmalz verstopfter Gehörgang die Ursache. "Den kann nur ein HNO-Arzt professionell beseitigen - niemals ein Wattestäbchen dafür benutzen", warnt der Oberarzt. Denn die verdichten nur den Schmalz und drücken ihn gegen das empfindliche Trommelfell.
Ein Implantat kann Wunder wirken
Angela Knölker (62) verlor als 16-Jährige zunehmend ihr Hörvermögen. Ursache: unbekannt. "Vermutlich war eine Virusinfektion schuld", sagt sie.
Vor 20 Jahren wurden ihr auf der rechten und vor zwölf Jahren auf der linken Seite je ein Cochlea-Implantat eingesetzt.
"Dabei wird der Außenschall über einen Sprachprozessor aufbereitet und über einen Draht mit bis zu 22 Elektroden direkt ins Innenohr geleitet", erklärt Oberarzt und Chirurg Prof. Marcus Neudert. "In der Hörschnecke erzeugen elektrische Felder Hörimpulse für den Hörnerv." So können Taube wieder hören.
"Das schönste Gefühl war für mich zwei Tage nach der Aktivierung des Implantats, als ich meinen Mann reden hören konnte, ohne ihm auf den Mund schauen zu müssen. Oder als mein Sohn von der sonst unverständlichen Heavy-Metal-Band 'Black Sabbath' sprach", erinnert sich Angela Knölker.
Jährlich werden an der Dresdner HNO-Uniklinik bis zu 130 Operationen eines Cochlea-Implantats durchgeführt - bei Schwersthörigen, taub geborenen Kindern oder nach langjährigen chronischen Entzündungen und Unfällen. Die Patienten waren dabei zwischen acht Monate und 93 Jahre alt.
Permanenter Lärm ist Dauerstress für die Ohren und mindert langsam aber sicher das Hörvermögen. "Ich benutzte bei lauten Konzerten zum Beispiel immer Ohropax, um den Schalldruck auf die Trommelfelle zu dämpfen", sagt Neudert.
Eine klare Aussprache ist auch Übungssache
"Nicht sehen zu können, trennt von den Dingen. Nicht hören zu können, trennt von den Menschen", weiß Sprachheiltherapeutin Dominique Kronesser (38).
Sie übt permanent mit den Cochlea-Implantat-Trägern, denn sie müssen Hören erst wieder neu erlernen.
"Mit dem Cochlea-Implantat hören sich Geräusche anfangs blechern und verzerrt an. Klaviermusik wird wie Schlagzeugklang empfunden. Stimmen klingen wie von einem Roboter oder Micky Maus", erklärt Kronesser.
"Den richtigen Ton zu erkennen, ist anfangs ungefähr so, als würde man mit Boxhandschuhen eine Klaviertaste treffen wollen."
Zudem werden ähnlich klingende Buchstaben wie O und U oder E und I verwechselt. "Ob Kanne, Tanne oder Wanne gemeint ist, ergibt sich erst aus dem Kontakt eines Satzes. Ganz schwer zu unterscheiden sind auch Zischlaute."
Weil derzeit nicht alle die Masken mit Mund-Sicht nutzen können, rät Kronesser: "Bitte langsam und deutlich sprechen und den Gesprächspartner dabei bewusst ansehen!"
Titelfoto: Eric Münch