Energiepreis-Irrsinn: Diese Branchen trifft es hammerhart!
Dresden - Die Energiepreise klettern in Deutschland in schwindelerregende Höhen. Wirtschaft und Verbraucher treiben deswegen Existenzängste um. Sie hören aufmerksam zu, wenn die politischen Akteure Wege aus der Krise diskutieren. Bundesfinanzminister Christian Lindner (43, FDP) besuchte als Festredner am gestrigen Samstag in Dresden die Meisterfeier der Handwerkskammer. Er bekam zu hören, was von Rot-Grün-Gelb in Berlin jetzt erwartet wird.
Die Feier in der Messe beginnt wie ein Hollywood-Blockbuster im Kino, "The Imperial March" aus den "Star Wars"-Filmen dröhnt aus den Lautsprechern. Ein Sprecher erzählt eine düstere Geschichte aus der Zukunft. Er berichtet von einer gescheiterten Energiewende, verstopften Toiletten und einem betagten Handwerksmeister aus Dresden-Pieschen, der als Einzelkämpfer aufopferungsvoll zu retten versucht, was gerettet werden muss...
Das Publikum ist gebannt, amüsiert. Trotzdem gefriert manchen wenig später das Lachen. Energie-Krise, Rohstoff-Engpässe, Pandemie, überbordende Bürokratie, Regulierung, Steuerlast, Fachkräftemangel - die Handwerker stehen vor massiven Problemen.
"Ist Krise die neue Realität?", fragt der Präsident der Handwerkskammer Dresden Jörg Dittrich (53) auf dem Podium. Dittrich spricht aus, was viele im Saal bewegt: "Angst, was da auf uns zukommt."
Der Dachdeckermeister hält nichts von ideologischer Energiepolitik. Er fordert - wie der anwesende MP Michael Kretschmer (47, CDU) - von der Bundesregierung rasches Handeln und strategische Entscheidungen, die Sicherheit schaffen.
Dittrich stellt klar, dass die Verteuerung der Energie um 600 Prozent Firmen in den Ruin treibt. Jammern ist an diesem Tag trotzdem nicht seine Sache.
Minister Lindner sieht Chancen: "Nutzen Sie sie"
"Wir können umgehen mit Krisen", schwört der Präsident seine Zuhörer ein.
Dann stimmt er ein Loblied auf die Freiheit an: "Sie ist die Grundlage unternehmerischen Handelns. Die Auswirkungen des Krieges zeigen uns jedoch auf, dass Freiheit und Wohlstand in Deutschland nicht in Stein gemeißelt sind."
Dittrich trotzig: "Ich weigere mich, das Licht am Ende des Tunnels auszuknipsen, um Strom zu sparen."
Und was sagt dazu der Bundes-Finanzminister? Christian Lindner lauschte konzentriert. Sein Plädoyer für das Aufschieben vom Atom- und Kohleausstieg sowie mutiges Unternehmertum wird wohlwollend aufgenommen.
Lindner zu den insgesamt 286 neuen Meistern: "Die Energiewende und der Klimaschutz sind eine Chance fürs Handwerk. Nutzen Sie sie."
Alarmstimmung in vielen Branchen
Die Nerven liegen in vielen Chefetagen blank. Das spürten die TAG24-Reporter bei einer Umfrage unter sächsischen Unternehmern jetzt deutlich.
Die Steigerung der Energiekosten berührt ausnahmslos alle Branchen - nicht nur die Betriebe mit einer energieintensiven Produktion. Um Kunden, Mitarbeiter und Geschäftspartner nicht zu verunsichern, will das Gros der Bosse jetzt öffentlich aber nicht zitiert werden.
Stahl- und Walzwerke, Glas- und Keramikindustrie: Fast alle Betriebe haben ihre Produktion gedrosselt. Sie liefern aus dem Lager und touren die Produktion nur hoch, wenn sie günstige Energiepreise erwarten können. So wechselt zum Beispiel die ESF Elbe-Stahlwerke Feralpi GmbH in Riesa tageweise in den On/Off-Modus. Effizienzverluste nehmen die Betriebe dabei zähneknirschend in Kauf.
Lebensmittelindustrie: Die Food-Branche spürt nicht nur die Auswirkungen der Energie-, sondern auch die der Rohstoffkrise. Die Preise für Milch, Getreide, Speiseöle haben ebenfalls angezogen. Diese Kosten können aber derzeit auch nur bedingt weitergegeben werden. Einige Betriebe zehren schon von den Rücklagen.
Textilindustrie: Die Hightech-Produktion von veredelten oder beschichteten Stoffen für technische Anwendungen verbraucht extrem viel Strom und Gas. Beispiel Vowalon in Treuen (220 Beschäftigte): Das Unternehmen stellt Kunstleder her. Dank langfristiger Gas-Lieferverträge läuft die Produktion rund. Die anziehenden Strompreise drücken aber die Stimmung. Gäbe es kein Gas für die Industrie, würden in der Produktion die Lichter ausgehen.
Handel: Wäre es denkbar, dass zur Bewältigung der Krise die Öffnungszeiten von Geschäften drastisch eingeschränkt werden? "Eine erhebliche Einschränkung beziehungsweise Verkürzung der Öffnungszeiten im Einzelhandel sehen wir nicht", erklärt René Glaser, Hauptgeschäftsführer Handelsverband Sachsen.
Verbraucherzentralen erleben Ansturm
Energie ist derzeit das Top-Thema bei den Beratungen der Verbraucherzentrale Sachsen (VZS). Der Verein erlebt einen regelrechten Ansturm. "Viele Menschen, die jetzt Post von ihren Gas- und Stromversorgern erhalten haben, wenden sich mit Sorgen an uns. Sie sehen sich mit massiven Preiserhöhungen konfrontiert und möchten vor allem juristisch beraten werden", berichtet der Energie-Experte Lorenz Bücklein (42) von VZS.
Der Referent hat von krassen Fällen gehört: So bekam eine Alleinerziehende mitgeteilt, dass sie künftig monatliche Abschläge fürs Gas in Höhe von 1500 Euro bezahlen soll. Die Summe entsprach den gesamten Einkünften der verzweifelten Frau.
Ein klarer Trend zeichnet sich in den Beratungen ab: Die Versorger rufen bei auslaufenden Lieferverträgen nun Preise für Strom und Gas auf, die beim Drei- bis Fünffachen und höher liegen.
Lorenz Bücklein: "Wir zeigen Handlungsmöglichkeiten auf und beraten zu Lösungen. Wenn nötig, übernehmen wir auch eine Lotsenfunktion." So ist auch eine Vermittlung zu Sozialämtern bei Härtefällen möglich.
Das Thema Energiesparen steht im Fokus vieler Hausbesitzer. So herrscht große Unsicherheit, auf welche Energieträger und Heizungsanlagen man zukünftig setzen soll.
VORSICHT! Betrüger bieten im Internet in Fake-Shops Solaranlagen, Brennholz, Holzpellets und Brennstoff zu Schnäppchenpreisen gegen Vorkasse an. Die Kunden zahlen, doch nichts wird geliefert. Bei unerhört günstigen Preisen ist daher Skepsis geboten.
Bei einer anderen Betrugsmasche geben sich Ganoven als Sparkassen-Mitarbeiter aus. Sie sammeln Kontozugangsdaten am Telefon oder per SMS, um angeblich die Energiepauschale "auszahlen" zu können.
Titelfoto: Montage: IMAGO/Westend61, IMAGO/UIG, Norbert Neumann