Stuttgart 21: Dieser Mann sorgt sich um die Seelen der Bauarbeiter
Stuttgart - In der Grube rollen Betonmischer, davor halten Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 Protestwachen. Seit Jahren. Wie beim Berliner Flughafen BER explodieren die Kosten, vieles verzögert sich. Ein Bericht von der Baustelle, die die Schwabenmetropole prägt.
In 56 Metern Höhe ist die Sicht frei auf Stuttgarts Zukunft und Schmerz zugleich. Vom Bahnhofsturm mit seiner Aussichtsplattform gucken Besucher herunter auf das Bahnprojekt Stuttgart 21, Deutschlands größte Baustelle. Und wohl auch Deutschlands umstrittenste Baustelle.
Wie eine offene Wunde klafft sie im Herzen der Landeshauptstadt, dort wo einst ein Teil der Parkanlagen im Schlossgarten lag. Bauzäune und Absperrungen machen das Leben in der Schwabenmetropole für Fußgänger zum Hindernislauf. Autofahrer der sechstgrößten deutschen Stadt stehen in langen Staus. Radfahrer suchen ein Durchkommen.
In der gigantischen Grube bauen Arbeiter am neuen Hauptbahnhof, der einmal tief unter der Erde liegen wird - anders als die heutige Halle. Bis zu zwölf Meter hohe Kelchstützen wachsen gerade aus dem Grubenboden. Es sind massige Trichter aus Beton und Eisen, die später das ebenerdige Bahnhofsdach tragen sollen. Durch Kuppeln aus Glas - die wie Seifenblasen auf dem Dach liegen - fällt dann einmal Tageslicht in die Bahnhofshalle unter der Erde.
Die Gegenwart jedoch wird nicht nur durch die Baustelle geprägt. Sie ist auch bestimmt durch eine eigene Welt der Probleme: Stuttgart 21, kurz S21, wird massiv teurer. Und der Abschluss verzögert sich.
Seit 2010 wird am Bahnprojekt Stuttgart-Ulm gebaut. Und je länger es am Herzstück, dem Bahnhof, dauert, desto brennender plagt manche die Frage, ob sich der ganze Aufwand am Ende lohnt. Vier Menschen, die sich bisweilen auf dem Turm einen Überblick verschaffen, erzählen von ihrem Leben mit der Baustelle, von Sorgen und Hoffnungen.
Der Bauleiter
Einer, der extra wegen S21 nach Baden-Württemberg kam, ist Michael Pradel. Auf der Plattform spricht der 45-Jährige von einer "echten Mammutaufgabe". Der technische Projektleiter der Bahn zeigt den Kampfgeist eines ehemaligen Leistungssportlers. "Mein Ziel ist es, so qualitativ hochwertig und kostengünstig wie möglich zu bauen und am Schluss das rote Band der Sympathie zu durchschneiden", sagt der frühere Ruderer der Junioren-Nationalmannschaft der DDR.
Pradel ist in der Nähe von Potsdam in Werder an der Havel zu Hause. Dort leben seine Frau und die zwei Söhne. Als ihn die Deutsche Bahn vor gut drei Jahren fragte, war ihm klar, dass es ein solches Angebot nur einmal im Leben gibt. Während viele Stuttgarter noch fluchen über den Dreck und darüber, dass die Baustelle sie im Alltag behindert, reicht seine Vorstellungskraft schon weit in die Zukunft.
Irgendwann sollen die Bürger sagen, dass es sich gelohnt habe, wünscht sich Pradel. "Die Leute, die heute noch zur Elbphilharmonie nach Hamburg pilgern, kommen dann in den Stuttgarter Hauptbahnhof, um die Architektur zu begutachten und sich daran zu erfreuen", schwärmt er. "Das wird ein Architekturmekka werden. Und zusammen mit der Internationalen Bauausstellung wird es Stuttgart einen Aufschwung geben, der seinesgleichen sucht." 2027 ist die Schau geplant.
Seinen Arbeitstag beginnt Pradel meist um 8.00 Uhr und beendet ihn 13 Stunden später. Zeit, um auch viele der Probleme anzugehen. Da ist der Widerstand der Gegner. Da sind die auf 8,2 Milliarden Euro fast verdoppelten Kosten. Und die Verzögerungen. Nicht wenige Stuttgarter befürchten, dass S21 wie der Flughafen Berlin-Brandenburg BER enden könnte: Der soll mit neun Jahren Verspätung 2020 den Betrieb aufnehmen - und ist mit 6,5 Milliarden Euro schon rund dreimal so teuer wie geplant.
"Ich werde die Kritiker nicht bekehren"
Bereits seit den 1980ern ist im europäischen Verkehrswegeplan die Rede davon, den Sackbahnhof in eine Durchgangsstation umzuwandeln. Das geht nur unterirdisch. Der Baufortschritt ist mit den vielen Tunneldurchbrüchen und Brücken längst unübersehbar.
Aber bis S21 fertig ist, wird Pradel die Debatte um den Sinn des Ganzen nicht los. Von der Turm-Plattform schaut er auf die Straße, den Beginn der Fußgängerzone. Dort steht seit acht Jahren eine Mahnwache gegen S21. Wenn er als Bauleiter mit den Gegnern redet, hilft das aus seiner Sicht, manche Woge zu glätten.
Aber ihm bleibt klar: "Ich werde die Kritiker nicht bekehren. Einige haben nach wie vor nicht das Ziel, den Bahnhof besser zu machen, sondern das Projekt zu verhindern."
Die Stadtführerin
An der Mahnwache am Arnulf-Klett-Platz steht Doris Zilger. Die pensionierte Lehrerin erklärt als Stadtführerin die Sicht von außen auf die Baustelle. "Immer wieder kommt zuerst die Frage, ob ich für oder gegen das Projekt bin", sagt die 67-Jährige. Sie bindet nicht jedem gleich auf die Nase, dass sie zu den Gegnern gehört. Sie macht etwa fünf Schichten pro Woche im Protestzelt.
"Wir können es nicht verhindern"
Die sportliche Frau trägt das Abzeichen "Umstieg 21" - eine kleine Hoffnung aus Metall, dass der Bahnhof doch nicht komplett unter die Erde wandert. Besonders Sicherheitsfragen lassen den S21-Wächtern wie Doris Zilger keine Ruhe: der Brandschutz im neuen Tiefbahnhof, die Neigung der Gleise, die Fluchtwege in den Tunneln, die Gefahr von Rissen an Gebäuden durch die Bauarbeiten.
"Wir können es nicht verhindern. Die Idee, dass die ganzen Gruppen, die dagegen sind, noch einen Stopp hinkriegen, die ist, glaube ich, vorbei", sagt sie. Montags organisieren Stuttgarter Proteste mit oft Hunderten Teilnehmern. Viele Gegner sind mit dem Widerstand alt geworden.
"Es wird so viel ausgebremst durch Stuttgart 21"
Markenzeichen der Kritiker ist bis heute ein gelbes Schild mit der Aufschrift "Stuttgart 21". Es ist wie bei einem Ortsausgang-Zeichen rot durchgestrichen. "Hier wird etwas gebaut, was die Stadt nicht braucht", sagt Zilger. Bei Führungen verschafft sie den Gruppen teils auch ein Bild von oben vom Bahnhofsturm mit dem rotierenden Mercedesstern.
Doris Zilger fällt vieles ein, was die Stadt und ihre rund 620 000 Einwohner eher nötig hätten: die Tieferlegung der Bundesstraße 14 zum Beispiel. Eine Kulturmeile soll hier mal entstehen. Doch noch zerschneidet die vielspurige Konrad-Adenauer-Straße das Viertel mit dem Staatstheater, der Staatsgalerie und anderen Einrichtungen.
"Es wird so viel ausgebremst durch Stuttgart 21", klagt Zilger. Die Oper braucht eine Sanierung, einen Ausweichspielort. Bauen will die Stadt auch ein neues Konzerthaus und ein neues Völkerkundemuseum. Doch viele Flächen sind auf Jahre wegen S21 blockiert.
Der Seelsorger
Mit der Baustelle ist Stuttgart, die Stadt von Daimler, Porsche und Bosch, noch internationaler geworden. Aus über 20 Nationen kommen die Arbeiter des Projekts: Eisenflechter aus der Türkei, Tunnelbauer aus Österreich, Poliere aus Polen. Für viele ist Peter Maile ein Anker, jemand, der Halt geben will in der Fremde. Wenn der 57-Jährige in seiner orangen Weste mit der Aufschrift "Seelsorger" über das Gelände läuft, begrüßen ihn manche wie einen Freund.
"Am meisten berührt mich, dass man Teil von einem großen Ganzen ist und so selbstverständlich aufgenommen wird", sagt Maile, der mit seiner Familie in der Nachbarstadt Esslingen lebt. Er bringt die Menschen unterschiedlicher Kulturen bei Grillfesten und Weihnachtsfeiern zusammen. Ein Programm gegen den Lagerkoller. Die Aussicht vom Bahnhofsturm nutzt er, um seinen Leuten rasch einen Überblick zu verschaffen.
"Viele sprechen Beziehungsprobleme an"
Rund 6000 Arbeiter leben in seiner Gemeinde mit den etwa 30 Einzelbaustellen des Projekts Stuttgart-Ulm. Überall hat der Angestellte der katholischen Kirche Zugang. "Es geht nicht ums Missionieren", sagt er. Maile will Kümmerer sein. "Viele sprechen Beziehungsprobleme an. Es ist schwer für Paare oder Familien, sich über die Entfernung nicht auseinander zu leben."
Den Alltag auf Baustellen kennt Maile: Er arbeitete früher als Heizungsbauer und Installateur, bevor er sich zum Diakon fortbildete. Er gibt den Männern Rat beim Gesundheits- und Arbeitsschutz. Er schaut sich Lohnzettel an, ob Zuschläge ordentlich abgerechnet sind. "Die Firmen haben ein großes Interesse, die Leute zu halten und zahlen deshalb ordentlich", meint er.
Einen Betriebsseelsorger wie ihn für Arbeitsnomaden und Migranten auf einer Baustelle gebe es sonst nirgends in Deutschland, sagt er.
Der Veteran
Viele kommen und gehen bei Stuttgart 21. Nur wenige begleiten das Projekt so lange wie Peter Morhard. Der Beamte kam vor 17 Jahren von der Vertretung des Landes in Berlin in die Projektgruppe. "Damals ging es zwar noch lange nicht mit dem Bauen los. Trotzdem war das Projekt mit seiner Rahmenvereinbarung von 1995 schon ziemlich alt", erinnert sich der 53-Jährige. Morhard wollte wegen der Geburt seiner zweiten Tochter zurück nach Stuttgart.
"Es ist doch nur ein Verkehrsprojekt"
Der Jurist aus dem Landesverkehrsministerium steht ruhig auf der Aussichtsplattform des Bahnhofsturms und blickt über das Gelände. Dass die Stimmung um das Vorhaben sich so aufheizen konnte, kann der hagere Mann im grauen Anzug nicht so richtig nachvollziehen.
Dem Referatsleiter ist klar, dass es bei Großvorhaben Proteste etwa gegen Kosten gibt. "Mich hat aber gewundert, mit welcher Emotionalität manche Menschen reagieren. Es ist doch nur ein Verkehrsprojekt."
Als S21-Veteran hat er unter unterschiedlichen Regierungen erst mit schwarzer, nun mit grüner Führung gedient. Beim Machtwechsel 2011 änderte sich für den parteilosen Ministerialbeamten alles: "Da ging es auf einmal total in die Gegenrichtung." Von einer Glorifizierung unter der CDU zur Gegnerschaft unter den Grünen. Schließlich war eine Mehrheit der Bürger bei einer Volksabstimmung doch für den Bau.
Trotzdem ist sich Morhard sicher, dass es keine Ruhe geben wird. Der um Sachlichkeit bemühte Beamte wird ein bisschen emotional - beim Thema Artenschutz: "Es ist paradox, dass wir in Stuttgart im Grunde eine Eidechsenplage haben. Trotzdem beschäftigen wir uns viel damit, die Tiere umzusiedeln."
Etwa 6000 Mauereidechsen leben auf einem Gelände in Stuttgart-Untertürkheim, wo ein Abstellbahnhof entstehen soll. Naturschützer warnen davor, die geschützten Tiere zu töten. Doch die Projektpartner hoffen wegen der großen Population auf eine Ausnahme, um das zeitraubende Umsiedeln der Reptilien zu vermeiden.
Titelfoto: DPA