Missstände nerven alle Beteiligten! Darum ist unsere Justiz am Limit

Dresden - Komplexe Strafverfahren, Klagewellen nach Gesetzesänderungen und Massenklagen - Sachsens Justiz droht der Infarkt. Viele Richter und Staatsanwälte arbeiten am Limit. Personalmangel lähmt Teile der Verwaltung. Der Druck ist immens groß, weil in der Vergangenheit zwischenzeitlich Stellen abgebaut wurden. Doch wo Schatten, da auch Licht: Mit einer Einstellungsoffensive kämpft der Freistaat gegen Not- und Missstände. Doch noch ist Geduld gefragt.

Gilbert Häfner (64) ist Präsident des Oberlandesgerichtes und ein Freund klarer Worte.
Gilbert Häfner (64) ist Präsident des Oberlandesgerichtes und ein Freund klarer Worte.  © Thomas Türpe

Strafverfahren bei den Kammern der Landgerichte:

In Sachsen sind fast alle Landgerichte mit langwierigen Prozessen beschäftigt und regelrecht blockiert. "Häufig sind es Verfahren mit mehreren Angeklagten und Nebenklägern, sie dauern sehr oft mehrere Monate, teils weit über ein Jahr", sagt der Präsident des Oberlandesgerichts (OLG) Gilbert Häfner (64).

Er klagt: "Das bindet ohne Ende Personal im richterlichen Bereich, aber auch bei Wachtmeistern und den Geschäftsstellen. Und da pfeifen wir im Moment aus dem letzten Loch."

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So beanspruchten am Landgericht Leipzig im vergangenen Jahr 14 Verfahren insgesamt mehr als 400 Prozesstage.

In Chemnitz dauert ein Verfahren in erster Instanz inzwischen statistisch 8,4 Monate.

Neues Gesetz löst Klagewelle aus

Immer wieder steht die Justiz vor neuen Herausforderungen: 2014 klagten massenhaft Hartz-IV-Empfänger, 2015 Asylbewerber. Nun binden komplexe Strafverfahren oder Abrechnungen im Gesundheitsbereich viele Kräfte.
Immer wieder steht die Justiz vor neuen Herausforderungen: 2014 klagten massenhaft Hartz-IV-Empfänger, 2015 Asylbewerber. Nun binden komplexe Strafverfahren oder Abrechnungen im Gesundheitsbereich viele Kräfte.  © imago/bonn-sequenz

Sozialgerichte:

Das neue "Pflegepersonal-Stärkungsgesetz" löste Ende 2018 eine Klagelawine aus. Am stärksten betroffen war davon das Sozialgericht Dresden.

Von November bis Dezember gingen dort insgesamt 805 neue Klagen ein. Die hohe Zahl der Fälle liegt daran, dass in Dresden die AOK plus und die IKK classic ihren Sitz haben.

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Dorrit Klotzbücher, Präsidentin des Sächsischen Landessozialgerichts (LSG) in Chemnitz:

"Abrechnungsstreitigkeiten zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern nehmen inzwischen einen Umfang ein, der mit dem zur Verfügung stehenden Personal nicht zeitnah bewältigt werden kann."

Erschwerend kommt hinzu: Am Dresdner Sozialgericht fehlen statistisch gesehen knapp zwei Richter, am LSG knapp fünf.

Null-Toleranz Politik des Generalstaatsanwalts sorgt für reichlich Arbeit

Generalstaatsanwalt Strobl (r.) mit Justizminister Gemkow.
Generalstaatsanwalt Strobl (r.) mit Justizminister Gemkow.  © Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild/dpa

Druck durch den Generalstaatsanwalt:

Sachsens Chef-Ankläger hat eine Rundverfügung erlassen, wonach Bagatellverfahren nicht mehr eingestellt werden dürfen. Diese Null-Toleranz-Politik sorgt nun für reichlich Arbeit bei den Gerichten. Dabei sehen sogar Kriminologen diese Verfahrensweise kritisch.

Massenklagen:

Die sind ein lukratives Betätigungsfeld für Fachanwälte für Kapitalanlagerecht.

Allein am OLG in Dresden gibt es bisher rund 680 Verfahren im sogenannten VW-Abgasskandal. Beklagt werden der Konzern, Autohäuser, -verkäufer und die Audi AG.

Die Abwicklung dieses Komplexes in tausenden Verfahren ist irrational und legt Teile der Justiz lahm, schimpfen Richter unisono.

Generationswechsel und Personalmangel als große Probleme

Immer wieder kommt es zu Engpässen und Prozess-Verzögerungen am Justizzentrum Dresden.
Immer wieder kommt es zu Engpässen und Prozess-Verzögerungen am Justizzentrum Dresden.  © Thomas Türpe

Generationswechsel:

Ein großer Teil der in den Nachwendejahren neu eingestellten Richter und Staatsanwälte geht in den kommenden Jahren in den Ruhestand. Allein zwischen 2026 und 2030 werden rund 30 Prozent aller sächsischen Richter und Staatsanwälte (etwa 460 Männer und Frauen) aus dem aktiven Dienst ausscheiden.

Personalmangel:

Mammut-Prozesse und erhöhte Sicherheitsanforderungen halten inzwischen so viele Justizbedienstete auf Trab, dass es etwa im Justizzentrum Dresden immer wieder zu Engpässen und Prozess-Verzögerungen kommt.

Erst kürzlich war in Dresden die Pforte am Haupteingang wochenlang geschlossen, weil es schlicht an Wachleuten dafür fehlte.

Die Justiz wird zum Wanderzirkus

Die Akten stapeln sich: Sachsens Richterschaft schiebt einen Berg Arbeit vor sich her.
Die Akten stapeln sich: Sachsens Richterschaft schiebt einen Berg Arbeit vor sich her.  © imago/Mario Kühn

Protokoll-Probleme:

Geschäftsstellen kommen an ihre Grenzen, denn Justizsekretärinnen und -sekretäre sitzen oft ganztägig als Protokollanten in Verhandlungen. Ihre Arbeit (von Zeugen laden bis Termine organisieren) müssen Kollegen anderer Geschäftsstellen zusätzlich übernehmen.

Platznot:

Hämische Insider nennen die Dresdner Justiz schon einen Wanderzirkus - so häufig ziehen inzwischen Richter, Staatsanwälte und Sekretäre mit ihren Akten um.

Im Hof des Verwaltungsgerichts stehen bereits Büro-Container für die neuen Kollegen. Das Justizzentrum (2012 am Sachsenplatz eröffnet) lagerte aus Platzmangel jetzt eine komplette Abteilung aus.

Die Langzeit-Verfahren belegen an den Gerichten inzwischen so viele Räume, dass Säle für neue Verhandlungen knapp werden.

Mittlerweile verlegen Richter deshalb schon Prozesse in die frühen Abendstunden. Mancher von ihnen denkt sogar bereits darüber nach, am Wochenende Recht zu sprechen.

Die Politik hat schon reagiert

Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) hat Rechtswissenschaften in Leipzig, Berlin und Hamburg studiert.
Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) hat Rechtswissenschaften in Leipzig, Berlin und Hamburg studiert.  © dpa/Hendrik Schmidt

Und was macht die Politik? Sie schaut nicht mehr weg. Es wird jetzt in Köpfe investiert. „Die sächsische Justiz ist nach den Fortschritten der letzten Jahre jetzt gut aufgestellt", sagt Justizminister Sebastian Gemkow (41, CDU).

Denn: "Seit Beginn der vergangenen Legislaturperiode wurden der Justiz insgesamt über 500 neue Stellen zur Verfügung gestellt, um nicht nur die Richterschaft, sondern Gerichte und Staatsanwaltschaften in allen Laufbahnen wie auch den Justizvollzug und die Ausbildung von Justizpersonal zu stärken", berichtet Gemkow.

Gemessen an den neu eingehenden Verfahren sind die sächsischen Gerichte und Staatsanwaltschaften inzwischen weitgehend bedarfsgerecht (laut bundesweiter Personalbedarfsberechnung „PEBB§Y“) mit Richtern, Staatsanwälten und weiteren Bediensteten ausgestattet.

Die Herausforderung der Stunde besteht nun darin, die alten Aktenberge abzutragen, während die neuen Fälle bearbeitet und ein Generationswechsel in der Richterschaft gemeistert werden müssen.

Justitia ist die Göttin der Gerechtigkeit. In Kunst und Literatur steht sie für die strafende Gerechtigkeit oder das Rechtswesen.
Justitia ist die Göttin der Gerechtigkeit. In Kunst und Literatur steht sie für die strafende Gerechtigkeit oder das Rechtswesen.  © Fotomontage/imago images/Ralph Peters & 123RF Lian

Der Freistaat hat Weichen gestellt. Minister Gemkow: "Wir haben in den vergangenen Jahren trotz geringer Altersabgänge überdurchschnittlich viele Proberichter und Versetzungsbewerber eingestellt.

Aktuell sind im Freistaat 141 Proberichter tätig, davon 87 bei den Gerichten und 54 bei den Staatsanwaltschaften." Geduld ist dennoch gefragt.

Denn aus Proberichtern dürfen die Chefs der Gerichte nicht einfach neue Kammern zusammenstellen. Das verbietet das Gerichtsverfassungsgesetz.

Die „jungen Wilden“ dürfen allerdings die Kammern der „alten Hasen“ unterstützen. Sie sollen dort lernen und Erfahrungen sammeln.

Auch der Ausbau der Ausbildungsstätten für den Nachwuchs aller anderen Justizlaufbahnen wird forciert. Für die kommenden Jahre ist geplant, Altersabgänge mit Neueinstellungen zu kompensieren und Proberichter und Versetzungsbewerber einzustellen.

Mangel an qualifizierten Bewerbern für den richterlichen und staatsanwaltlichen Dienst gibt es (noch) nicht. Vorsorglich wurde im laufenden Doppelhaushalt aber bereits die Zahl der Stellen für Rechtsreferendare um 100 auf etwa 600 Stellen erhöht.

Gemkow begrüßt die Initiativen im Bund zur Reform der Strafprozessordnung, um Strafverfahren effizienter durchführen zu können. Der Minister: "Das Vertrauen der Bürger in den Staat hängt auch davon ab, ob das Recht zeitnah durchgesetzt wird. Das Ziel, überlange Verfahrensdauern und die Blockade von Strafprozessen zu verhindern, begrüße ich deshalb ausdrücklich. Allerdings müssen dabei natürlich die grundgesetzlich geschützten Rechte auf eine effektive Verteidigung gewahrt bleiben."

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