"Laufen in eine demografische Lücke": Sachsens oberster Job-Vermittler warnt
Dresden - Einerseits werden überall händeringend Fachkräfte gesucht, andererseits steigt die Arbeitslosigkeit. Was paradox klingt, lässt sich erklären. Sachsens Arbeitsmarkt befindet sich im Umbruch. Hier im Interview erörtert der Chef der Arbeitsagentur im Freistaat, Klaus-Peter Hansen (61), im Gespräch mit Redakteurin Pia Lucchesi die Lage. Zudem analysiert er, warum Sachsens Wirtschaft jetzt und in Zukunft Zuwanderung zwingend braucht.
131.069 Arbeitslose Männer und Frauen
TAG24: Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel schließen sich nicht mehr aus. Woran liegt das?
Klaus-Peter Hansen: Vor 20 Jahren herrschte Massenarbeitslosigkeit in Sachsen und für 50 Arbeitslose gab es ein Stellenangebot. 2023 zählten wir im Jahresschnitt 131.069 arbeitslose Männer und Frauen.
Das waren etwa 1000 weniger, als wir Betriebe hier haben. Das Verhältnis Arbeitslose und Jobs liegt heute bei 3 zu 1. Und die drei, die da sind, passen immer weniger zu der einen Stelle, die besetzt werden soll.
TAG24: Stimmt es, dass viele Menschen zu schlecht qualifiziert sind, um im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen?
Hansen: Die Anforderungen der Betriebe an die Bewerber sind gestiegen. Jeder zweite Arbeitslose kann heute nur als Helfer arbeiten, jedoch nur jede fünfte Stelle ist für Helfer ausgeschrieben. Die andere Hälfte der Arbeitslosen könnte als Fachkraft oder höher arbeiten. Bei Fachkräften sind Angebot und Nachfrage fast ausgeglichen.
Arbeitslosigkeit ist zunehmend geprägt von einem höheren Alter, Langzeitarbeitslosigkeit, fehlenden Kenntnissen oder veralteter Qualifikation.
"Wir brauchen Geduld - Geld und Zeit"
TAG24: Welche Chancen haben Migranten auf dem Arbeitsmarkt?
Hansen: Personen mit anerkannten Abschlüssen und Deutschkenntnissen haben ausgezeichnete Chancen. Viele Menschen, die in den vergangenen Jahren aus dem nichteuropäischen Ausland zu uns gekommen sind, erfüllen allerdings die Anforderungen vom ersten Tag an nicht.
Da geht es im Wesentlichen um Sprachkenntnisse, Qualifikationen, Abschlüsse sowie deren Anerkennung.
TAG24: Das sind doch lösbare Probleme.
Hansen: Ja, aber das bindet Ressourcen. Wir brauchen da Geduld - Geld und Zeit.
TAG24: Wie viel Zeit?
Hansen: Stellen Sie sich vor, Sie müssten ihren Beruf in Japan ausführen. Japanisch ist ungefähr so schwer wie Deutsch als Sprache. Wann könnten Sie vor Ort arbeiten? Nicht zu vergessen: Wir als Agentur können uns erst um Arbeit für die eingewanderten Menschen kümmern, wenn deren Aufenthaltsstatus behördlich geklärt ist – also wenn sie arbeiten dürfen.
Viele junge Frauen verließen das Land
TAG24: Sie nennen Sachsens Jugend jetzt gern Goldstaub. Warum?
Hansen: Weil der Anteil der Jugend an der Bevölkerung so gering ist und die jungen Menschen so dringend gebraucht werden – ein rares Gut!
TAG24: War es ein Fehler in den 1990er- und 2000er-Jahren, die Menschen zu animieren, sich woanders einen Job zu suchen?
Hansen: Nein. Hätten wir die Leute hier 20 Jahre lang warten lassen sollen? Wir hatten damals in der Lausitz eine Arbeitslosenquote von bis zu 30 Prozent. Ich habe selbst im Arbeitsamt Bautzen mit Mobilitätsprogramme entwickelt, damit Menschen am Flughafen München Arbeit aufnehmen können. Das war richtig.
Nur klar ist auch: Damals verließen ganz viele junge Frauen das Land. Sie haben die nächsten Generationen mitgenommen.
Deswegen schlägt der demografische Effekt in Sachsen und den neuen Ländern viel eher und härter zu, als etwas zeitverzögert in den alten Bundesländern. Dort waren es Wohlstandsprobleme. Bei uns ging es um Existenzen.
"Acht Prozent der Arbeitskräfte in Sachsen sind inzwischen Ausländer"
TAG24: Die Geburtenzahlen gehen gerade wieder zurück.
Hansen: Ja, das ist bedauerlich, unendlich traurig. Die Menschen reagieren auf wirtschaftliche Sorgen – leider auch in der Familienplanung.
TAG24: Fruchten die Bemühungen, Menschen zum Rückkehren nach Sachsen zu bewegen?
Hansen: Wir haben die erste Erbengeneration 30 Jahre nach dem Mauerfall. Die Enkel kommen vielleicht noch. Die Urenkel nicht mehr. Da schließt sich ein Fenster.
TAG24: Warum ist der sächsische Arbeitsmarkt für Pendler und Rückkehrer nicht attraktiv?
Hansen: Einspruch. Es gibt viel Bewegung. Vor allem an der Landesgrenze. Polen kommen über die Neiße. Tschechen übers Erzgebirge. Acht Prozent der Arbeitskräfte in Sachsen sind inzwischen Ausländer. Sachsen wird immer attraktiver. Die Zahl der Einpendler aus anderen Bundesländern hat sich seit Ende der 90er-Jahre auf 143.000 verdoppelt.
Trotzdem verlassen aktuell immer noch 8000 mehr den Freistaat, um anderswo zu arbeiten – nicht zuletzt wegen der Attraktivität der Jobs, den Aufstiegschancen oder dem Verdienst.
Ausgeblutete Unternehmen
TAG24: Damit sich das ändert, braucht es eine leistungsstarke Wirtschaft. Die Rahmenbedingungen sind momentan weiterhin aber sehr schwierig. Aktuell liegt die Quote bei der Kurzarbeit bei 0,5 Prozent. Welche Bedeutung wird Kurzarbeit in diesem Jahr haben?
Hansen: Je länger die Krisenphasen andauern, desto weniger würde ich auf das Instrument setzen. Kurzarbeit ist ja nicht für lau zu haben. Die Unternehmen müssen mitfinanzieren. In der Corona-Pandemie haben wir den Unternehmern gesagt: Haltet an euren Mitarbeitern fest.
In Spitzenzeiten zahlten wir damals pro Tag so viel Kurzarbeitergeld aus wie vor Corona in einem Jahr – sieben Millionen Euro. Seit vielen Monaten sehe ich, dass die Menschen eher ihre Arbeit verlieren, als dass Kurzarbeit ermöglicht wird.
Viele Unternehmen sind ausgeblutet, haben keine Reserven mehr und schließen. Kurzarbeit wird für die Probleme 2024 keine Lösung sein.
"Wir laufen in eine demografische Lücke"
TAG24: Wo sehen Sie Lichtblicke?
Hansen: Wir haben einen Höchststand an Nachfrage und Beschäftigung - allen Krisen und Risiken zum Trotz. Dieses hohe Niveau verlieren wir kurz- und mittelfristig nicht. Wir laufen in eine demografische Lücke. Wir werden Probleme haben, Menschen zu finden, die auf die Arbeitsplätze passen.
TAG24: Wird dann wirklich jeder gebraucht werden?
Hansen: Ja. Aktuell ist es heute schon in den Landkreisen so, dass jeder Zweite, der in die Rente ausscheidet, nicht durch Jugend ersetzt werden kann – weil diese einfach fehlt. Nur in Dresden und Leipzig ist die Situation noch ausgeglichen.
Die Sorgen der Unternehmen um die Auswirkungen der Demografie dämpfen die aktuellen Schwächen der Wirtschaft.
TAG24: Wird uns Migration erhalten bleiben?
Hansen: Ja, das ist meine These. Und wir brauchen diese Migration auch, denn wir haben in Sachsen nicht genügend Kinder in die Welt gesetzt. Selbst wenn wir jetzt eine Aktion starten: Es braucht dann mindestens 18 Jahre, bis diese Babys uns als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.
Die Summe aller Stellschrauben
TAG24: Nun propagiert Sachsens Ministerpräsident mit der CDU gerade, dass die Menschen länger und weniger in Teilzeit arbeiten. Ist das die Lösung unserer Probleme?
Hansen: Es gibt nicht die eine Lösung. Es ist eine Summe an Stellschrauben, an denen gedreht werden muss, um die Zahl der Menschen, die in Arbeit sein könnten, zu verändern. Stellen Sie sich vor, die Wehrpflicht wird wieder eingeführt. Wir verkürzen die Regelstudiendauer, verlängern die Freiwilligendienste oder verschieben das Renteneintrittsalter.
Das alles führt zu Veränderungen. Ich würde es daher sehr begrüßen, wenn Wirtschaft, Gewerkschaft und Politik sich an einen Tisch setzen und darüber sprechen. Da gibt es viele Zielkonflikte. Alles hat mit allem zu tun.
Da fehlt mir gerade die Strategie und eine Agenda 2030, 2040.
Titelfoto: Fotomontage: Kristin Schmidt, imago/Westend61, imago images/photothek