Warum fühlen sich manche von Kriminalität bedroht, andere dagegen kaum?
Chemnitz - Manche haben so große Furcht vor Gewalt und Straftaten, dass keine seriöse Risikoabschätzung und Statistik sie beruhigen kann. Andere wohnen an Brennpunkten und beschäftigen sich nur mit Strafsachen, wenn im TV ein Krimi läuft. Warum nur nehmen Menschen Kriminalität so unterschiedlich wahr?
Neue Erkenntnisse des Zentrums für kriminologische Forschung Sachsen (ZKFS) zeigen erstmals repräsentativ Zusammenhänge zwischen Kriminalitätswahrnehmung, Furcht vor Kriminalität und mangelndem Vertrauen in die Justiz auf.
TAG24: Frau Dr. Bolesta, ist Angst ein guter Ratgeber?
Dr. Deliah Bolesta: Nein, heißt die kurze Antwort.
TAG24: Und die lange Antwort?
Dr. Deliah Bolesta: Psychologisch gesehen verhalten wir uns bei Angst eher instinktiv und nicht rational. Die besseren Entscheidungen treffen wir aber rational. Daher sollten wir regelmäßig überprüfen, ob unsere Ängste gerechtfertigt und nicht von Emotionen geleitet sind. Im Zusammenhang mit Kriminalität haben Menschen häufig unbegründet Angst. Wenn man sich dann unsicher fühlt oder das Haus nicht mehr verlässt, schränkt man seine Lebensqualität ein. Wer Angst empfindet, neigt zudem dazu, bestimmte Gruppen von Menschen unter Generalverdacht zu stellen.
TAG24: Worauf beruht die Kriminalitätswahrnehmung?
Dr. Deliah Bolesta: Menschen merken sich am besten, was aus der täglichen Informationsflut heraussticht oder sie irgendwie betrifft. Der Einbruch in unserer Nachbarschaft berührt uns mehr als der in einer fernen Stadt. Die Wahrnehmung von Kriminalität ist dadurch häufig verzerrt. Und ich persönlich habe noch keine Schlagzeile gesehen, in der stand: "Heute ist in Stadt XY keine Straftat passiert!"
Wie steht es um das Vertrauen in die Polizei und Justiz?
TAG24: Sind die Sachsen ängstlicher als der Rest der Republik?
Dr. Deliah Bolesta: In unserer repräsentativen Befragung befand sich Sachsen im Mittelfeld. Die Unterschiede sind insgesamt sehr gering.
TAG24: Ihre Untersuchung zeigt eine soziale Dynamik. Was sollte die Politik daraus schließen?
Dr. Deliah Bolesta: Unsere Studie zeigt, dass ein höheres Vertrauen in die Justiz eine Art Schutzfaktor sein kann. Das heißt, wer ein hohes Vertrauen in unser Rechtssystem hat, fürchtet sich weniger vor Kriminalität. Hier könnte also mehr Kommunikation und Transparenz hilfreich sein. Grundsätzlich kann man gegen Emotionen aber nur schwerlich mit Fakten vorgehen.
TAG24: Viele fordern härtere Strafen für überführte Straftäter. Ist es ein Irrglaube, dass man so die Kriminalität eindämmen kann?
Dr. Deliah Bolesta: Weltweit ist sich die Forschung da relativ einig: Härtere Strafen erzielen keine bessere Wirkung im Blick auf die Rückfälligkeit von Straftätern. Ziel jeder strafrechtlichen Maßnahme in Deutschland ist immer die Resozialisierung. Lange Freiheitsstrafen können aber den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt erschweren. Im schlimmsten Fall führen sie dazu, dass die Person erst recht wieder straffällig wird.
TAG24: Das Vertrauen in Polizei und Justiz ist teils sehr gering.
Dr. Deliah Bolesta: Jein. Grundsätzlich ist das Vertrauen, insbesondere in die Polizei, relativ hoch. Die Frage, wie dieses hohe Vertrauen noch verbessert oder gehalten werden kann, ist trotzdem bedeutsam. Hier wäre Dialog wichtig, um auch die Menschen hinter der Uniform oder der Richterrobe zu sehen. Transparenz, Bildung und Bürgerbeteiligung sind dafür entscheidend. Unsere Studien zeigen, dass positive Erfahrungen und Begegnungen das Vertrauen erhöhen, negative es aber beschädigen können.
Mehrheit glaubt an harte Strafen
5000 Personen, drei Jahre (2021 bis 2024) und regelmäßige Befragungen - das "Panel zur Wahrnehmung von Kriminalität und Straftäter:innen" stellt die erste kriminologische sogenannte Längsschnittstudie in Deutschland dar. Hier Erkenntnisse, die aufhorchen lassen.
Wahrnehmung: In der Bevölkerung wird die Kriminalitätsrate tendenziell überschätzt. Nur 3,22 Prozent der Befragten nahmen einen Rückgang der Kriminalität wahr, obwohl tatsächlich in 45,31 Prozent der Landkreise weniger Straftaten registriert wurden.
Strafen: Die deutsche Bevölkerung bewertet repressivere Strafen (etwa Freiheitsstrafen) positiver als weniger repressive Bestrafungsmöglichkeiten. Personen, die sich selbst politisch rechts der Mitte einordnen, und solche mit einem ausgeprägten Strafbedürfnis stehen repressiven Strafformen positiver und offeneren Strafformen negativer gegenüber.
Vorurteile: Erfahrungen mit indirekter oder direkter Gewalt hatten 17,25 Prozent der Befragten aufgrund ihrer Ethnie/Religion; fast 16 Prozent aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und fast 20 Prozent aufgrund ihres Migrationshintergrundes. Opfer von vorurteilsmotivierten Gewalttaten, sexueller Nötigung/Missbrauch sowie Polizeigewalt meldeten diese Vorfälle deutlich seltener der Polizei als Opfer von Einbruch, Raub, Körperverletzung oder digitalem Identitätsdiebstahl.
Einstellungen: Wirtschaftskriminalität (wie Korruption, Steuerhinterziehung) machte 2022 nur 1,3 Prozent aller polizeilich registrierten Straftaten aus, verursachte aber etwa 34 Prozent der Schadenssumme. Die Bevölkerung nennt diese Form der Kriminalität überwiegend verwerflich (insbesondere die Korruption). Doch jene, die sich selbst rechts der Mitte sehen und keine Probleme mit Ungleichheit sowie Hierarchien in der Gesellschaft haben, bewerten Wirtschaftskriminalität als weniger verwerflich als alle anderen Befragten.
Vertrauen: Das größte Vertrauen in Polizei und Justiz haben Personen mit höherer Bildung, höherem Einkommen und deutschen Wurzeln. Das geringste Vertrauen besitzen die Befragten mit AfD-Präferenz. Eine Tendenz zu Verschwörungsglauben geht mit einem niedrigen Vertrauen einher. Große Stücke auf Polizisten und Richter halten Menschen, die das System rechtfertigen, sowie Personen mit autoritären Einstellungen.
Das Institut und seine Aufgabe
Das Zentrum für kriminologische Forschung Sachsen e.V. (ZKFS) ist eine in Ostdeutschland einmalige kriminologische Forschungseinrichtung. Die Aufgabe des An-Instituts der Technischen Universität Chemnitz ist grundlagen- und praxisorientierte kriminologische Forschung.
Das Erheben von Daten, die die Kriminalitätsentwicklung und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit beschreiben, zählt zum Job der Wissenschaftler.
Ihre Mission lautet: Fakten vermitteln, auf- und erklären, damit Kriminalität sachlicher und objektiver diskutiert wird.
Titelfoto: Bildmontage: 123rf/mindsparx, Arno Burgi