Verschwundene Dörfer Sachsens: Besonders viele in den letzten 100 Jahren
Lausitz - Im Laufe der Zeit verschwanden immer wieder Ortschaften von der sächsischen Landkarte. Insbesondere im letzten Jahrhundert mussten viele Dörfer weichen - dem Mauerbau, der Anlage von Stauseen, vor allem aber fielen mehr als 100 Ortschaften bzw. Ortsteile dem Braunkohlebergbau in Sachsen zum Opfer.
Die Heimat Tausender Menschen ging damit unwiederbringlich verloren. Fotograf Jürgen Matschie (70) hat den Heimat-Verlust im Lausitzer Revier in den letzten 38 Jahren mit seiner Kamera festgehalten.
"Der Widerspruch, dass die Menschen in der Kohleindustrie arbeiten und sich damit gleichzeitig irgendwann ihrer Lebensgrundlage berauben, hat mich fasziniert", erzählt Matschie, der selbst in einem kleinen Dorf namens Spreewiese, etwa 15 Kilometer nördlich von Bautzen, aufgewachsen ist - und damit auch mit der Kohle. Mit neun Jahren stand er zum ersten Mal an einem Grubenrand. Ein Schulausflug. Und ein prägendes Erlebnis.
Nach einer Lehre als Werkzeugmacher und einem Ingenieurstudium bekam er 1985 dann die Gelegenheit, als Fotograf erstmals einen Tagebau zu besuchen. "Das Gigantische, wenn man vor den Maschinen steht, und die Weite des Tagebaus haben mich schon beeindruckt", erinnert er sich und fährt fort: "Man hat aber natürlich auch die Verwüstung gesehen und das Dilemma, dass so viel Land in Anspruch genommen wird für das Flackern eines Lichtes in der Wohnung".
Ab diesem Zeitpunkt wurde die Kohle sein steter Begleiter. "Mich haben die Leute interessiert, wie sie auf dem Dorf mit der Kohle leben und wie sich die Dörfer verändern", schildert der Bautzner.
Von Veränderungen und Entwurzelungen
Seine Bilder veröffentlichte er in etlichen Büchern, darunter "Brunica - Leben mit der Kohle" oder "Tief im Osten. Die Lausitz im Wandel 1976–2020". Er präsentiert sie auf Ausstellungen, auch über die sächsischen Grenzen hinaus.
"Mein Anspruch war immer, als Chronist aufzutreten und der Nachwelt was zu hinterlassen. Und im besten Fall wird ein Bild von mir zum Sinnbild für diese Zeit."
So erlebte er auch mit, wie zahlreiche Dörfer - beispielsweise Grötsch, Horno oder auch Dörfer des Schleifer Kirchspiels - von der Bildfläche verschwanden und sich stattdessen riesige Erdlöcher auftaten. Er weiß: "Für die Menschen ist das Schlimmste der ganze Druck davor, dass sie umziehen sollen und müssen. Und diese Entwurzelung ist dann noch Generationen später spürbar. Es ist ja nichts mehr da, wo man vielleicht aufgewachsen ist, wo man Fahrrad fahren gelernt hat oder zur Schule gegangen ist".
Insbesondere für die sorbische Kultur sei diese Entwurzelung ein Desaster.
"Es dauert ein oder zwei Generationen, bis sich eine Dorfgemeinschaft neu gefunden hat. In dieser Zeit spielen Sprache und Kultur eine geringere Rolle und das ist natürlich ein enormer Verlust", weiß Jürgen Matschie, selbst Sorbe.
Mühlrose heute...
... und damals
Großkonzerne vernichten weiter kleine Ortschaften
Auch das Schicksal von Mühlrose, dem wohl letzten Dorf, das der Kohle in der Lausitz zum Opfer fallen wird, begleitet der passionierte Fotograf seit Jahren. Wohl bis zum bitteren Ende.
"Es ist schon eine neue Siedlung entstanden. Die Leute sind hingezogen. Sobald jemand auszieht, kommt die Abrissfirma", berichtet er. "Es sind vielleicht noch fünf oder sechs Wirtschaften bewohnt, die nicht wegwollen."
Aber der Gemeinderat habe schon alle öffentlichen Gebäude an den Energiekonzern "Leag" verkauft. "Damit ist das Dorf weg!", ist sich der Künstler sicher.
Infos: www.juergen-matschie.de
Ausstellungs-Tipp: "Nach der Kohle ... Gesichter und Landschaften der Lausitz" (bis 16. August) u.a. mit Fotos von Jürgen Matschie, Kunsthalle Lausitz/alte Segeltuchfabrik, Cottbus.
Titelfoto: Bildmontage: Jürgen Matschie, picture alliance / Erich Schutt/dpa-Zentralbild/ZB