Dresden - Diese Nacht vergisst man nie: Erst Jakobsweg, dann Jakobuskirche und schließlich Jacobs Kaffee. Zwischen diesem Dreiklang können müde Pilger ausgerechnet auf einem Friedhof ihren Frieden finden - das gibt's nur in Sachsen.
In Pesterwitz (bei Dresden) bietet eine unheimliche Herberge gottesfürchtigen Seelen ein Bett auf dem Gottesacker: Man schläft in einem ehemaligen Sterbehaus umgeben von Gräbern und Grabsteinen. Wer sich da nicht gruselt, muss mit Gottes Segen unterwegs sein.
Man hört Trapsen vorm Fenster. Schritte knirschen im Sand, werden immer lauter. Dann geht knarrend eine Tür auf, fällt krachend ins Schloss und Fremde machen sich im Badezimmer nebenan zu schaffen.
Unterm Bett bahnt sich gleichzeitig eine Armada von krabbelnden Insekten den Weg. Und wenn es wieder leise wird, zerreißt der Ruf eines Käuzchens die nächtliche Stille des Friedhofs. Gespenstischer Grusel oder schön schaurig?
Der Nervenkitzel lässt sich buchen. Eine Unterkunft voller Abenteuer, gespickt mit einer Prise Gruselfaktor, bietet die Pesterwitzer Pilgerpension. Sie ist die einzige in Europa, die sich mitten auf einem Friedhof befindet.
Richtig gelesen, nicht an oder vor einem, sondern direkt auf einem Friedhof! Wer hier rastet, schläft zwischen Grabsteinen und Gruselatmosphäre.
Pilgerpension war einst ein Aufbahrungshaus für Verstorbene
Das Badezimmer der Herberge dient gleichzeitig als öffentliche Toilette. So wird das stille Örtchen zeitweise zum Pilgerziel für Passanten. Die nutzen den Weg quer über den Friedhof gern für ihre Notdurft und als fixe Abkürzung, um zu Bushaltestelle und Bäcker zu kommen.
Nicht weniger gruselig ist die Vergangenheit der Schlafstelle: Die Pilgerpension war früher ein Aufbahrungshaus für Verstorbene.
Die Schlüsselgewalt über Europas unheimlichstes Pilgerquartier übt Thomas Grän (72) aus, Vize-Vorstand der St. Jakobuskirche: "Die Pilgerpension öffnete 2013 nach einer Renovierung für rund 10.000 Euro, als der Pilgerweg eröffnet wurde. Eine Pension an unserer Jakobuskirche für Pilger auf dem Jakobsweg - da war uns der Name der Kirche einfach Verpflichtung."
Immer um sieben Uhr morgens läuten ihre Glocken den neuen Tag ein. Für ein kleines Frühstück steht dann immer auch ein Gläschen löslicher Jacobs Kaffee auf dem Tisch.
Eingecheckt haben in der Friedhofspension schon alle Altersklassen. "Oft pilgern Abiturienten vor ihrem Studium, Azubis nach ihrer Ausbildung oder rüstige Rentner, der älteste war Anfang 80", blättert Grän im pensionseigenen Gästebuch und liest von tschechischen, polnischen, österreichischen und Schweizer Gästen.
Neuer Lebensmut nach Schlaf auf dem Gottesacker
"Manchmal wollen Großeltern ihren Enkeln eine unvergessliche Wanderung in den Ferien bieten. Andere entdecken die Langsamkeit wieder", so Grän.
Klettergewandt sollten die Pilger allerdings sein, warten doch in den zwei Zimmern der Bleibe zwei Etagenbetten mit je drei übereinander gestapelten Schlafstätten auf müde Wanderer. Über eine Baumarktleiter geht's hoch in den dritten Stock, wo man förmlich wie in einem Himmelbett schläft.
"Wenn ich gewusst hätte, dass sich das Quartier auf einem Friedhof befindet, hätte ich es nicht gebucht", sagte einmal ein Pilger. "Er hatte offenbar gerade Nahestehende verloren, befand sich in einer Lebenskrise", vermutet Grän.
Umso erstaunter war er, als sich der Mann anderntags entlastet bei ihm meldete: "Ich bin abends auf dem Friedhof spazieren gegangen. Dabei sah ich einige Gräber mit Verstorbenen, die jünger waren als ich. Eigentlich sollte ich demütig und zufrieden sein", bilanzierte er nach seiner Friedhofsnacht. Neuen Lebensmut nach dem Gottesacker-Kontakt mit Gevatter Tod - auch das bietet die Pilgerpension.
Eine Frau wollte anfangs gar nicht eintreten, weil die Fenster vergittert waren. "Das hatte sie an ihre Haftzeit im Frauengefängnis Hoheneck bei Stollberg erinnert", erzählt Grän. Zum Glück pilgerte sie mit einer Freundin, die sie beruhigen und doch noch zu einer Nacht in der beheizbaren Kemenate überzeugen konnte.
"Einige Pilger kamen schon mit dem Fahrrad oder brachten einen Hund mit", erzählt Grän. "Viele loben unser Domizil im Gästebuch als Luxusherberge."
Pilgersaison beginnt Ende Februar
Die Pension ist außerdem Pilgerstätte für ein Geocaching-Spiel, bei der die Tür fotografiert werden muss. Deshalb könnte jederzeit auch ein Spieler der modernen GPS-Schnitzeljagd am Eingang auftauchen.
Einmal im Jahr gibt es sogar krabbelnde Untermieter. "Da bahnen sich plötzlich Ameisen ihren Weg durch die Zimmer", erzählt Grän. "Komisch, nach etwa drei Tagen ist die Insekteninvasion immer genauso schnell wieder vorbei, wie sie gekommen ist - bislang ohne Erklärung."
Doch die Zeitspanne reichte einmal aus, um drei junge Pilgerinnen in die Flucht zu schlagen. Grän musste für eine Umbettung sorgen: "Wir haben ihnen als Ausgleich ein Nachtlager im Diakonat angeboten."
Derzeit liegt die Pension im Winterschlaf. "Die Pilgersaison beginnt meist Ende Februar. Manche buchen sogar ein Jahr im Voraus", weiß Grän. Die nächste Anmeldung datiert auf Mai 2025.
Dann wird der Übernachtungspreis von derzeit 10 auf 15 Euro pro Person angestiegen sein. Ansonsten bleibt alles beim Alten - auch der mystische Gänsehautfaktor einer unheimlichen Friedhofsnacht.
Buchungen über: kirche-pesterwitz.de/jakobsweg.
Immer der Muschel nach
Der sächsische Zweig des Pilgerwegs entlang der mittelalterlichen Frankenstraße wurde im Juni 2013 eröffnet.
Er beginnt in Bautzen, Königsbrück oder in Annaberg-Buchholz und führt nach Santiago de Compostela. Er ist durchgängig mit dem bekannten europäischen Wegzeichen, mit der Muschel gekennzeichnet.
An der insgesamt rund 300 km langen Wegstrecke im Freistaat liegen 60 Pilgerunterkünfte, davon allein zwei in Pesterwitz. Grän: "Eine weitere Herberge ist eine Privatunterkunft im Ort, die wir als Ausweichquartier empfehlen."
Weitere Infos unter: www.saechsischer-jakobsweg.de.