Sachsens Ex-Ministerpräsident seit Jahren auf Mission in der Ukraine: "Lasse mich nicht einschüchtern"
Dresden - Am gestrigen Samstag jährte sich der russische Überfall auf die Ukraine zum zweiten Mal.
Seit mehr als zehn Jahren gibt es in dem Land bewaffnete Konflikte. Es gehört dort zum Alltag, dass täglich Menschen an der Front sterben. Gleichzeitig ringt das Land aber auch um demokratische Reformen. Aus Deutschland kommt dabei viel Unterstützung.
Auch Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Prof. Georg Milbradt (79, CDU) leistet als Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Verwaltungsmodernisierung in der Ukraine große Arbeit.
TAG24-Redakteurin Pia Lucchesi (50) sprach mit ihm über den Krieg, Reformen und den Preis von Frieden.
Milbradt: "Unterricht wird teilweise in den U-Bahnschächten abgehalten"
TAG24: Herr Prof. Milbradt, haben Sie Angst im Gepäck, wenn Sie jetzt in die Ukraine reisen?
Milbradt: Nein, Kiew ist relativ sicher. In Charkiw, Cherson oder dem Donbass ist es gefährlicher. Ich nehme die Situation ernst, lasse mich davon aber nicht einschüchtern.
TAG24: Sie sind in Kiew, wenn sich der Beginn des russischen Angriffskrieges zum zweiten Mal jährt. Was erwarten Sie an diesem Tag?
Milbradt: Wahrscheinlich Luftangriffe in der Nacht. Das heißt, dass die Warn-App gegen 1, 2 oder 3 Uhr so einen Krach machen wird, dass man aus dem Bett fällt. Dann muss man in den Bunker des Hotels. Dazu ist zu sagen, dass in der ehemaligen Sowjetunion in Vorbereitung auf den nächsten Krieg viele Bunker gebaut worden sind. Sie existieren noch, werden genutzt und bilden einen Teil der U-Bahnanlagen. In Charkiw wird teilweise der Schulunterricht in den U-Bahnschächten abgehalten.
TAG24: Was werden Sie in der Ukraine machen?
Milbradt: Ich habe Gespräche mit der Präsidialadministration, der Regierung, Mitgliedern des Parlaments, Vertretern von kommunalen Spitzenverbänden, Botschaftern und zivilen Vertretern.
TAG24: Sie sind bereits 2014 in die Ukraine gegangen, um die Dezentralisierung des Staates mitzugestalten. Seit 2017 arbeiten Sie dort als Sondergesandter der Bundesregierung.
Milbradt: Die Ukraine wollte das alte sowjetische überzentralisierte System überwinden. Das war eine wesentliche Forderung der Maidan-Revolution 2013/14 und der Orangenen Revolution 2004. Dahinter steckte der Wunsch nach mehr Demokratie, Mitbestimmung, Transparenz und der Beseitigung von Korruption. Es sollte mehr auf die Bedürfnisse der Menschen vor Ort eingegangen und eine kommunale Selbstverwaltung eingeführt werden, die unserem Verständnis entspricht. Im sowjetischen System waren die Städte und Gemeinden Teile des zentralisierten Staatssektors - das System der DDR war dem ganz ähnlich.
Milbradt: "Ich berate die Ukraine dabei, den besten Weg für das Land zu finden"
TAG24: Ihr Auftrag ist es, neue administrative Strukturen aufzubauen. Tatsächlich kämpft die Ukraine jeden Tag ums Überleben. Wird da nicht der zweite Schritt vor dem ersten gemacht?
Milbradt: Nein. Seit 2004 hat es in der Ukraine Überlegungen zur Dezentralisierung gegeben. Als ich 2014 kam, waren die Schubladen voll von Plänen, wie man das machen sollte. Bereits sechs Wochen nach der Maidan-Revolution hatte die neue Regierung ein Programm dazu beschlossen. Das gilt bis heute im Wesentlichen als Richtschnur. Das war mein Vorteil, als ich meine Arbeit begann.
TAG24: Kopiert die Ukraine das deutsche Verwaltungssystem mit Ihrer Hilfe?
Milbradt: Nein. Man kann nicht einfach ein fremdes System kopieren, Gesetze übersetzen. Man muss das alles einbinden in die nationalen Traditionen. Das ist ein kreativer Prozess. Da wird nichts abgeschrieben. Ich berate die Ukraine dabei, den besten Weg für das Land zu finden, indem ich erkläre, wie einzelne europäische Länder sich jeweils aufgestellt haben. Polen und Frankreich liefern als große europäische Zentralstaaten gute Beispiele.
TAG24: Woran orientieren Sie sich?
Milbradt: Ich stütze mich auf den Europarat. Dessen Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung definiert als internationaler Vertrag den Mindeststandard, die Basis. Die Ukraine ist dem Vertrag beigetreten, hat ihn aber noch nicht voll umgesetzt. Auf der Charta bauen die jeweiligen Systeme der kommunalen Verwaltung auf, die benötigt werden, um zum Beispiel die stationäre medizinische Versorgung, die Schulen oder die öffentlichen Dienste (Wasser, Energie, Abwasser, Nahverkehr), Stadtplanung und Wirtschaftsentwicklung in einem Gebiet, Kreis oder Gemeinde zu organisieren. Diskussionen darüber gab es schon vor dem Krieg. Nun ist die Frage, wie man nach dem Krieg weitermacht. Die Reformen hatten im Augenblick im Wesentlichen die Kommunen im Focus. Entsprechende Verfassungsänderungen wurden aber noch nicht vorgenommen.
Milbradt: "Ukraine hat nur eine Zukunft, wenn sie in europäische Strukturen eingebettet wird"
TAG24: Warum ist es wichtig, dass man jetzt über Verwaltungsaufgaben diskutiert?
Milbradt: Die Einführung einer starken kommunalen Selbstverwaltung schon vor dem Krieg hat die Widerstandsfähigkeit der Ukraine im Krieg sehr gefördert. Die Bürgermeister spielten dabei eine große Rolle. Das muss fortgesetzt werden. Auch für den Wiederaufbau ist es wichtig, die Gemeindeverwaltungen noch besser und schlagkräftiger zu machen. Es muss klar sein, wie etwa das Geld der internationalen Gemeinschaft beim Wiederaufbau genutzt werden soll. Soll das alles von oben gelenkt werden? Oder setzt man auf lokale Kompetenzen, hört die Bevölkerung an? Das und noch viel mehr gilt es möglichst früh zu regeln.
TAG24: Einige Vertreter des Europäischen Rates möchten - einfach gesagt - eine neue klimafreundliche Ukraine nach modernen Standards aufbauen.
Milbradt: Ja, man sollte dafür die Chance des Wiederaufbaus nutzen. Man wird jedoch nicht alles gleichzeitig machen können.
TAG24: In der Ukraine sterben täglich Menschen durch Bomben, Raketen, Granaten und in Brüssel diskutiert man über Windräder vor der Krim. Das ist mitunter schwer zu ertragen. Auch für Sie?
Milbradt: Ja. Und die Betroffenen können das noch sehr viel schwerer ertragen. Aber diese Debatte ist stets verknüpft mit der Sicherheitsfrage. Die Ukraine hat nur eine Zukunft, wenn sie in die europäischen Strukturen eingebettet wird und eine sichere Zukunft als unabhängiger Staat hat. Für das Land ist es sehr wichtig, europäische Standards zu erfüllen, damit es recht schnell EU-Mitglied werden kann.
Milbradt: "Die Ukraine will sich wehren - dafür braucht sie Waffen"
TAG24: Teile der Ukraine liegen in Schutt und Asche, sind entvölkert. Millionen von Ukrainern haben das Land verlassen. Was muss passieren, damit die Menschen zurückkehren und das Land wieder aufbauen?
Milbradt: Zuerst müssen nach dem Frieden Jobs und Wohnungen in den zerstörten Gebieten her. Die Menschen engagieren sich und kehren heim, wenn sie an eine persönliche Zukunft dort glauben und ihrer Regierung vertrauen. Dafür braucht es klare, leistungsfähige Strukturen, die zudem Korruption und Oligarchen-Wirtschaft unterbinden. Und es braucht Zeit. Die Transformation in der DDR ist ein gutes Beispiel dafür. Wobei diese allerdings viel leichter war im Verhältnis zu dem, was vor der Ukraine liegt.
TAG24: In Ostdeutschland gibt es viele Vorbehalte gegen Waffenlieferungen in die Ukraine. Haben Sie dafür Verständnis?
Milbradt: Diese Vorbehalte gibt es auch in Westdeutschland. Die entscheidende Frage ist: Frieden wofür und womit? Wollen wir Frieden und Freiheit? Oder wollen wir nur Frieden? Freiheit heißt, ich kann selbst bestimmen und nicht von anderen gezwungen und unterdrückt werden. Die Ukraine ist ein souveräner Staat, der von anderen und auch Russland anerkannt worden ist. Der seine Atomwaffen 1994 gegen die Garantie seiner Grenzen an Russland abgegeben hat. Putin hat diesen Pakt gebrochen. Die Ukraine will sich wehren. Dafür braucht sie Waffen. Frieden kann man immer haben, indem man kapituliert und sich unterwirft, Freiheit und Menschenwürde aber nicht.
TAG24: Welches Ziel verfolgt Putin Ihrer Meinung nach?
Milbradt: Putin will ein Europa ohne Amerika und ohne NATO - abhängig von Russland. Es geht dabei nicht nur um die Ukraine, sondern auch um die baltischen Länder, Polen. Putin wird bei Erfolg an der Neiße nicht stoppen. Es geht nicht nur darum, der Ukraine zu helfen, sondern um unsere Zukunft. Ich sehe leider kein schnelles Ende des Krieges.
TAG24: Sollte Deutschland alles liefern, was an Waffen verfügbar ist?
Milbradt: Natürlich. Wenn es gelingt, das Vordringen der russischen Armee zu verhindern und sogar ukrainisches Gebiet wieder zu befreien, dann ist die Bedrohung durch die russische Armee für uns wesentlich geringer als bei einem Sieg der Russen.
Milbradt: "Machtverhältnisse verschieben sich langsam"
TAG24: Sie meinen, allein mit unseren konventionellen Streitkräften kann man Deutschland augenblicklich nicht verteidigen?
Milbradt: Ich fürchte, ja. Wenn wir schon vor dem Krieg nur Munition für zwei Tage besessen haben sollten, war unsere konventionelle Verteidigungsfähigkeit gering. Deutschland hat sich also letztlich auf amerikanische Atomwaffen verlassen. Viele Politiker und Bürger haben die Bundeswehr bisher eher als großen gut zahlenden Arbeitgeber und Wirtschaftsförderer in strukturschwachen Gebieten wahrgenommen. Da ging es nicht um Landesverteidigung, sondern um ein bisschen Friedensmissionen im Ausland.
TAG24: Das muss sich Ihrer Meinung nach ändern?
Milbradt: Unbedingt. Wir haben die letzten 30 Jahre in einer Illusion auf einer Insel der Seligen bei immerwährendem Frieden gelebt. Wir spüren seit geraumer Zeit eine Veränderung der politischen Platten-Tektonik dieser Welt. Die Machtverhältnisse verschieben sich langsam. Indien und China als bevölkerungsreichste Staaten der Erde und Wirtschaftsmächte haben aufgeholt. Europa und Deutschland müssen sich dem stellen. Wir sind inzwischen eine kleine Halbinsel am eurasischen Kontinent, die sich nicht mal selbst verteidigen kann. Wir haben die Sicherheit an die USA outgesourct, um den eigenen Wohlstand maximieren zu können.
TAG24: Der Frieden muss bewaffnet sein?
Milbradt: Solange es keine Weltregierung gibt, die für Recht und Sicherheit sorgt, ist man ohne Bewaffnung oder verbündete militärisch hoch gerüsteten Staaten ausgeliefert. Durch den Krieg in der Ukraine werden wir mit den harten Realitäten konfrontiert. Ein Staat muss die äußere und innere Sicherheit gewährleisten können, wenn nicht allein, dann im Bündnis mit anderen. Das ist seine Kernaufgabe. Die Erfüllung aller anderen erwünschten staatlichen Aufgaben beruht auf der Gewährleistung von ausreichender Sicherheit. Es ist notwendig, jetzt eine ernsthafte Debatte über die Prioritäten und unsere Zukunft zu führen. Die Zeitenwende muss jetzt durchdekliniert werden. Das wird ein schwieriger und schmerzhafter Prozess sein.
Geburtstag in Kiew
Georg Milbradt wurde 1945 in Eslohe (Sauerland) geboren.
Seine politische Karriere begann der Wirtschaftswissenschaftler 1983 als Kämmerer in Münster. Kurt Biedenkopf (CDU) berief ihn 1990 als Finanzminister in seine erste Regierung. Zwölf Jahre später trat Milbradt die Nachfolge Biedenkopfs als Ministerpräsident an. Im Mai 2008 legte er dann das Amt und den CDU-Landesvorsitz nieder.
Noch im selben Jahr erlernte er in Krakau die polnische Sprache. Diese Sprachkenntnisse öffneten ihm in Osteuropa viele Türen. Nicht nur als deutscher Sonderbeauftragter bereiste er die Ukraine und angrenzende Länder.
Dabei knüpfte er Kontakte in Hunderte Städte und Gemeinden, schloss Freundschaften.
Am Freitag feierte Milbradt in Kiew seinen 79. Geburtstag.
Titelfoto: Thomas Türpe