Naturbeobachter gesucht: Wer hat einen Blick und Sinn fürs Schöne?
Großweitzschen - Habt Ihr in diesem Jahr nicht auch das Gefühl, dass die herbstliche Pracht wohl etwas länger an den Zweigen hängt als sonst? Könnte schon sein. Uwe Neumann (59) aus Westewitz (bei Leisnig) weiß es auf den Tag genau.
Er ist einer von 74 phänologischen Beobachtern in Sachsen, die für den Deutschen Wetterdienst (DWD) ehrenamtlich verfolgen, wann die heimischen Pflanzen blühen, ihre Früchte ausbilden oder später die Blätter abwerfen. So dokumentieren sie auch das Fortschreiten des Klimawandels in den sächsischen Regionen. Nachwuchs wird auch hier gesucht.
In diesen Tagen bereiten sich Bäume, Sträucher und Gräser auf den bevorstehenden Winter vor. Sobald die Stiel-Eiche ihre Blätter und die Europäische Lärche ihre Nadeln abwerfen, geht auch für Uwe Neumann der Beobachtungszeitraum zu Ende. Dann vervollständigt er sein Protokoll und schickt es zum DWD nach Offenbach. Es wird sein 42. Jahresbericht sein.
Denn schon als 17-Jähriger wurde er von seinem Biolehrer am Gymnasium Döbeln dafür angeworben. Neumann: "Als Gärtnersohn war meine Liebe und Faszination für die Pflanzenwelt kein Geheimnis, ich sagte gerne zu."
Damals gingen die Daten an den Meteorologischen Dienst der DDR nach Potsdam. Doch an den Beobachtungsobjekten änderte auch die Wende nichts.
Naturbeobachter warnt auch Allergiker
Phänologie bedeutet so viel wie Lehre von den Erscheinungen. Und mit dem Erscheinen der Haselnussblüte oder dem Aufblühen des Schneeglöckchens beginnt auch das phänologische Jahr.
Dieses ist unterteilt in zehn "Jahreszeiten" (etwa Vorfrühling oder Vollherbst), welche durch die Eintrittszeiten charakteristischer Vegetationsstadien festgelegter Pflanzen markiert werden. Mit der Blüte des Schwarzen Holunders beginnt zum Beispiel der Frühsommer.
Im Frühling, wenn alles schießt und sprießt, ist der studierte Agraringenieur am liebsten unterwegs. Dann hat Uwe Neumann aber auch recht viel zu tun. Denn zusätzlich ist er "Sofort-Melder", etwa für den Polleninformationsdienst.
Allergiker wollen früh gewarnt sein, ab wann sie sich in ihrer Gegend vorsehen müssen. Neumann: "Da muss ich sehr aufmerksam sein. Es kommt ja hinzu, dass Erle, Birke oder die Gräser inzwischen oft viel früher blühen, als es in den alten Lehrbüchern steht."
Der Beobachter hat einmal seine langjährigen Listen ausgewertet: "Am Beispiel Apfel lässt sich sagen, dass sich alle Entwicklungsphasen um eine Woche vorverlegt haben. Bei anderen Pflanzen sieht es ähnlich aus - alles spielt sich ein bis zwei Wochen früher ab als in den vergangenen Jahrzehnten."
Wetterdaten zeigen: Frühling beginnt immer eher
Das deckt sich mit den Daten, die der DWD von den anderen sächsischen Beobachtern über die Jahre gesammelt hat. Im langjährigen Mittel der Jahre 1961-1990 begann der Vorfrühling in Sachsen am 11. März, in den Jahren 1991-2020 startete er am 22. Februar.
Die Anzahl der Wintertage, also die der Vegetationspause, haben sich von 130 auf 111 reduziert. Während es jetzt im oberen Westerzgebirge durchschnittlich noch 134 Wintertage gibt, sind es im Leipziger Land noch 98.
Die phänologischen Daten werden für die Klimadiagnostik immer wichtiger, weil sich die Vegetationsphasen gut in Beziehung zu Temperatur-Trends setzen lassen. Daher sucht der Wetterdienst weitere Ehrenamtliche, die vor ihrer Haustür eine solche langfristige Beobachteraufgabe übernehmen (phaenologie@dwd.de).
Vor allem müssen aber die Posten von Pflanzenfreunden besetzt werden, die nun meist altersbedingt aufgehört haben, etwa in Tauscha, Trebsen oder Treuen. In Hoyerswerda wartet gar eine über 70 Jahre alte Beobachtungsreihe auf einen neuen Hobby-Forscher.
"Ein richtiger Winter wird immer seltener, den letzten hatten wir vor zehn Jahren"
Laut DWD-Angaben sollte man von seiner Freizeit etwa drei Stunden pro Woche opfern. Für Uwe Neumann, dem das Ehrenamt bereits eine Bundesverdienstmedaille einbrachte, spielt die Zeit keine Rolle.
Als Betreiber einer Baumschule für seltene Ziergehölze ist er ohnehin tagtäglich in der Natur und an der frischen Luft: "Für mich ist die Arbeit gleichzeitig Hobby, ich empfinde das nicht als ein Opfer."
Denn wenn man keinen zuverlässigen Vertreter findet, wird die Urlaubsplanung eher ungewiss. In der Vegetationszeit gibt es immer etwas zu dokumentieren.
Und selbst im Winter kann man inzwischen nicht mehr sicher sein. Neumann: "Kürzlich hatte ich ein Jahr, in dem die Haselnuss bereits am 23. Dezember geblüht hat." Der Vorfrühling schon vor Weihnachten!
Als Neumann in den 1980er-Jahren mit seiner Dokumentation begann, gab es auch bei ihm im eher flachen Land fast immer Schnee. "Ein richtiger Winter wird immer seltener, den letzten hatten wir vor zehn Jahren."
Auch ihm begegnen hin und wieder Menschen, die den Klimawandel leugnen. "Auf diese Diskussionen lasse ich mich nicht mehr ein. Ich sage dann, dass ich ja die Zahlen und Fakten sehe." Dazu gehört auch, dass ihm die Freiberger Mulde schon zweimal ein "Jahrhunderthochwasser" schickte und die Baumschule zerstörte.
Und hängen nun die Blätter in diesem Jahr tatsächlich etwas länger? Uwe Neumann: "Früher hatten wir ja die ersten Nachtfröste etwa Mitte Oktober, die ließen in diesem Jahr auf sich warten. Recht stürmisch war es auch nicht."
Den Beginn des Blattfalles von der Stiel-Eiche protokollierte er für Westewitz auf den 8. November. Der Durchschnitt der letzten 30 Jahre für Sachsen liegt am 3. November.
Titelfoto: Norbert Neumann