Anfeindungen, Übergriffe: So schäbig und verbissen war Wahlkampf in Sachsen noch nie
Dresden - Der Countdown läuft. In einer Woche wählt Sachsen einen neuen Landtag. Die Wahlprognosen zeichnen kein einheitliches Bild. Wird Sachsen etwa unregierbar?
Linke, SPD und Grüne müssen wohl um ihren Wiedereinzug ins Parlament bangen. Die Freien Wähler schaffen vielleicht erstmals den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde.
Regierungs-Chef Michael Kretschmer (49, CDU) kann sich nicht vollends sicher sein, dass seine Christdemokraten wieder die stärkste Kraft im Land werden.
Einzig die AfD und das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) strahlen dieser Tage Zuversicht aus angesichts hoher Zustimmungswerte. Doch abgerechnet wird erst am Schluss!
Bis zur letzten Minute wollen alle Parteien um Stimmen kämpfen - mit aller Macht und teils fragwürdigen Mitteln. Schon jetzt steht fest: So hart, verbissen, laut und auch schäbig war ein Wahlkampf noch nie.
Kontroverse um Radio-Spot
Darf man in Wahlwerbespots zum Erschießen von AfD-Wählern auffordern und solche Gewalttätigkeiten verharmlosen? Um zu verhindern, dass der Wahlwerbe-Spot "Die Machtergreifung" von "Die Partei" ausgestrahlt wird, zog der Mitteldeutsche Rundfunk in dieser Woche bis vors Sächsische Oberverwaltungsgericht.
Die Radiowerbung ("Diesmal schießen wir zuerst") gibt hörspielartig den Dialog eines Ehepaares wieder. Am Tag der Vereidigung der neuen AfD-Regierung in Sachsen macht das Paar Jagd auf deren Anhänger und Unterstützer. Es fallen Schüsse, gibt Tote. Am Ende des Spots ertönt der Satz: "Bevor es zu spät ist: Wählen Sie Die Partei."
Der Heimatsender sah darin einen Aufruf zur Gewalt gegen AfD-Anhänger. Die Richter folgten diesen Argumenten nicht. Ihrer Ansicht nach verstößt der Inhalt des knapp 90 Sekunden langen Spots nicht evident gegen das Strafrecht. Die Satire sei für jedermann erkennbar, urteilten sie.
Vergangenen Donnerstag musste der MDR den Spot darum senden.
Attacken nicht nur gegen Plakate
Im Zusammenhang mit der anstehenden Landtagswahl und den bereits im Juni abgehaltenen Kommunal- und Europawahlen registrierte das sächsische Innenministerium fast 900 Straftaten.
Die Delikte werden als politisch motivierte Straftaten geführt. In 815 Fällen ging es dabei um beschädigte Wahlplakate. Betroffen: vor allem SPD und AfD. 55 Vorfälle richteten sich gegen Parteienvertreter, 14 gegen Parteigebäude. Auch 14 Gewaltdelikte wurden gezählt.
Vertreter aller Parteien berichten unisono, dass sie beim Plakate-Anbringen oder Vor-Ort-Terminen schon bepöbelt oder angefeindet worden sind. Trauriger Höhepunkt der Verrohung war der brutale Überfall auf den SPD-Politiker Matthias Ecke (41) Anfang Mai. Er musste im Krankenhaus operiert werden.
Die SPD-Spitzenkandidatin Petra Köpping (66) schätzt ein: "So einen brutalen und scharfen Wahlkampf gab es noch nie." Schuld daran haben ihrer Meinung nach die Populisten aus mehreren Parteien.
Lärmverbot auf Demos
Musik-Verstärker, Megafone, Trillerpfeifen: Auf Demos werden Forderungen gern unerhört laut vorgebracht - schließlich wollen die Protestler gehört werden. Dresden schiebt dem Ganzen aber jetzt einen Riegel vor.
Künftig darf die Lautstärke bei einer Versammlung auf einem flachen Platz 90 Dezibel nicht übersteigen. Die Stadt reagiert mit dieser Anordnung auf die Beschwerden von Anwohnern, Gästen und Polizisten, so ein Sprecher des Oberbürgermeisters.
Um sich Gehör zu verschaffen, hatten Demo-Veranstalter jüngst immer heftiger aufgedreht. In der Spitze hatte man bei Kundgebungen bis zu 108 Dezibel gemessen!
Zum Vergleich: Das sind drei Dezibel mehr als bei einem Formel-1-Rennen mit 30 Meter Abstand. Lärm macht krank, sagen Mediziner. Die absolute Schmerzgrenze unserer Ohren liegt bei 120 bis 130 Dezibel.
Werbung mit Kreuz liegt manchen quer im Magen
"Dieses Plakat stößt alle Christen vor den Kopf. Es verletzt ihre Gefühle, ist peinlich und vergiftet den Wahlkampf", wettert der Landtagsabgeordnete Frank Richter (64, SPD). Der Theologe und Bürgerrechtler ist ehrlich entgeistert, welche Untiefen der Wahlkampf 2024 erreicht hat.
Das Corpus Delicti: ein Plakat der Satirebewegung "Die Partei". Es zeigt eine Fotomontage, die Michael Kretschmer als einen ans Kreuz gefesselten Menschen darstellt. Der bildhafte Bezug zu Jesus Christus ist offensichtlich.
Im Bildhintergrund sind CDU- und AfD-Politiker zu sehen, die teils Beifall klatschen. "Bevor es zu spät ist: Die Partei Sachsen" steht darunter. Die Wahl der 'Partei' wird so auf eine Stufe mit der Rettung des Erlösers gestellt.
Richter: "So sehr ich die Politik der AfD ablehne und in der CDU und in Michael Kretschmer politische Kontrahenten erkenne, so sehr bitte ich, dieses Plakat abzunehmen. Michael Kretschmer ist kein Erlöser und die abgebildeten Politiker sind keine Mörder."
Streit um Wahlforen
Draußen Demos - drinnen Debatten: Die insgesamt 60 Wahlforen in den 60 sächsischen Wahlkreisen, die vor der Landtagswahl von der Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) organisiert wurden (die letzten Veranstaltungen finden in der kommenden Woche statt), erhitzen viele Gemüter.
Peter Schreiber von den Freien Sachsen sorgte am 20. August im Riesaer "Stern" für einen Eklat. Er setzte sich mit auf die Bühne, obwohl er nicht eingeladen war. Sicherheitsleute eskortierten Schreiber dann hinaus. Vor laufenden Handykameras inszenierte sich der Direktkandidat als Opfer: "Ich bin nicht eingeladen und darf hier nicht mitdiskutieren."
Tatsächlich musste sich die SLpB in diesem Sommer immer wieder erklären, nach welchen Kriterien sie die jeweils vertretenen Direktkandidaten ausgewählt hat und warum sie am Prinzip der sogenannten abgestuften Chancengleichheit festhält.
Man nimmt die Kritik aber sehr ernst. SLpB-intern wird diskutiert, ob man bei zukünftigen Wahlen und Foren neue Wege gehen könnte.
Titelfoto: Bildmontage: Arvid Müller, AfD-Fraktion, Matthias Ecke/SPD Sachsen/dpa