Können Sachsens "etablierte Parteien" eine Landtagswahl-Schlappe noch verhindern?
Dresden - Zum Verdauen der Ergebnisse von Europa- und Kommunalwahlen bleibt den abgestraften etablierten Volksparteien nicht viel Zeit.
In gerade mal elf Wochen wird in Sachsen ein neuer Landtag gewählt.
Nicht nur in der Staatskanzlei und den Zentralen der Kenia-Koalitionäre gibt es heiße Debatten, was sich in der Kürze der Zeit ändern muss, damit Wählervertrauen zurückerobert werden kann.
Dazu Stimmen von drei Experten, einem Politikerklärer und eine Straßen-Umfrage.
"Die Wahlergebnisse spiegeln die Stimmung im Land wider. Der AfD ist es zuletzt gelungen, die Wut und Verbitterung, die es in ganz Ostdeutschland gibt, zu nutzen, um Stimmen einzusammeln", analysiert der Politikwissenschaftler Prof. Hans Vorländer (69) von der TU Dresden.
Das Vertrauen der Menschen in die etablierten Parteien und die Leistungsfähigkeit der Demokratie in der Praxis ist in einem sehr, sehr langen Prozess verloren gegangen, sagt der Parteien-Forscher.
Migration und Flüchtlingsaufnahme werden im Wahlkampf herausragende Rollen spielen
CDU, SPD & Co. werden in der Wählergunst nur dann wieder zulegen können, wenn sie glaubwürdige Personen, Programme und Politik präsentieren. Vorländer: "Ganz besonders kommt es dabei auf die Überzeugungskraft der handelnden Personen an."
Die Themen Migration und Flüchtlingsaufnahme werden im anstehenden Wahlkampf herausragende Rollen spielen.
Prof. Birgit Glorius (54) von der TU Chemnitz rät als Migrationsforscherin den Regierungsparteien, lieber über Integrations-Erfolge zu sprechen und diese in einen Zusammenhang mit den Bedürfnissen des Freistaats zu bringen anstatt über Grenzkontrollen, Abschiebung und Bezahlkarte.
Wie geht es den Menschen heute, die 2015 zu uns kamen? Wie funktioniert das Zusammenleben mit ihnen? Wie können humanitäre Verpflichtungen mit unseren eigenen Bedarfen produktiv zu verbinden? "Das sind Themen, die vor Ort wichtig sind", so Glorius.
Der Chef der deutschen Ifo-Wirtschaftsinstitute Clemens Fuest (55) warnte diese Woche bei einem Besuch in Dresden: Europa ist nur erfolgreich, wenn die Bereitschaft besteht, nationale Interessen gelegentlich zurückzustellen und zu kooperieren. "Es ist an der Zeit, die Wähler wie Erwachsen zu behandeln und ihnen auch unangenehme Wahrheiten zuzumuten", meint der einflussreiche Ökonom.
Interview mit Dr. Roland Löffler, Chef der Landeszentrale für politische Bildung: "Es braucht Signale der Stabilität"
TAG24: Herr Löffler, Sie haben in dieser Woche einen Interview-Marathon bewältigt. Welche Frage können Sie nicht mehr hören?
Roland Löffler: Hat die politische Bildung versagt, wenn Sie diese Wahlergebnisse sehen?
TAG24: Und, hat Sie?
Löffler: Wenn eine Gesellschaft kippt, sind alle dafür verantwortlich und nicht nur ein Sektor. Natürlich muss sich die politische Bildung kritisch damit auseinandersetzen, ob sie Fehler gemacht hat. Aber es sollte auch klar sein, dass politische Bildung Grenzen hat. Auch Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Medien müssen sich fragen: Was haben wir falsch gemacht?
TAG24: Warum hat es Sie nicht überrascht, dass die AfD bei der U18-Wahl auch stärkste Kraft wurde?
Löffler: Die Jugendlichen partizipieren an gesellschaftlichen Trends. Offensichtlich scheint der Rechtspopulismus in breiten Schichten der Bevölkerung mittlerweile normal zu sein. Ich frage mich auch, was Jugendliche, die rechts ihr Kreuz machen, im Elternhaus erleben und in den sozialen Medien konsumieren. Dort sind die rechtspopulistischen Parteien stark unterwegs.
Biegt Sachsen scharf rechts ab?
TAG24: Wir sprechen von den Wählern von morgen. Biegt Sachsen scharf rechts ab?
Löffler: Rechtspopulistische Parteien haben Zulauf in Europa - in Ungarn, Polen, Frankreich oder den Niederlanden. Demgegenüber stehen starke linkspopulistische Gruppen in Spanien, Griechenland. Die Triggerpunkte heißen im Süden: soziale Gerechtigkeit und höhere Löhne. Im Norden und Osten: Wohlstandserhalt, Migration und der Umgang mit dem Ukraine-Krieg. Das wird sich so schnell nicht ändern. In den nächsten zehn Jahren müssen wir uns mit diesen Phänomenen auseinandersetzen.
TAG24: Sie setzen sich dafür ein, dass politische Bildung ab der Grundschule auf dem Stundenplan steht.
Löffler: Ja. Zudem sollte Medienbildung einen höheren Stellenwert bekommen. Wir müssen noch früher und tiefer aufklären. Wir brauchen Räume, um Zweifel, Ängste und Frust auszusprechen und offene Diskussionen zu führen. Und dann müssen wir geduldig erklären, auch, was Europa uns in Sachsen an Vorzügen bringt und dass Europa-Bashing oft sehr billig und ohne Kenntnisse der Zusammenhänge erfolgt.
TAG24: Es wird jetzt viel von verlorenem Vertrauen gesprochen. Kann die Landespolitik bis zur Wahl am 1. September da noch etwas zurückholen?
Löffler: Trends können hoch- und runtergehen. Sie haben viel mit der inneren Zufriedenheit und Sicherheit der Menschen zu tun. Umfragen zeigen, dass in den Corona-Zeiten das Vertrauen in die Regierenden höher war als heute, obwohl es viele Demos gegen die Maßnahmen gab. Entscheidend wird sein, wie das Krisenmanagement der Regierenden wahrgenommen wird. Es braucht Signale der Stabilität. Streit in Regierungen hassen die Leute.
Und das sagen die Wähler ...
Was müssen die Parteien tun, damit sie das verlorene Vertrauen zurückgewinnen?
Maria-Christin (24), Erzieherin: Sie müssten sich viel mehr im sozialen Bereich engagieren. Die Kindergrundsicherung, für die man sich feiert, ist ein Witz, weil viel zu wenig Geld in die Hand genommen wurde. Der Staat muss sich mehr kümmern um Kinder, Senioren und Menschen, die Angehörige pflegen.
Rolf (69), Rentner: Die Politik sollte aufhören, Versprechungen zu machen. Beispiel Energiepolitik: Da wird kopf- und planlos alles abgeschaltet. Dabei ist und bleibt völlig unklar, woher zukünftig bezahlbarer Strom für Industrie und Bevölkerung kommen soll.
Heiko (38), Ingenieur: Die deutsche Politik darf nicht den Themen der AfD hinterherlaufen. Sie muss eigene finden und setzen, die die Leute mitnehmen. Und dann muss sie diese Themen auch konsequent verfolgen.
Maria (77), Rentnerin: Die Parteien müssen klar erklären, wofür sie stehen. Abgrenzungen halte ich dabei für ganz wichtig. Es gibt inzwischen so viele politische Akteure, dass es kaum noch möglich ist, den Überblick zu behalten.
Philipp (27): Die Politik sollte das umsetzen, was sie verspricht. Ich persönlich bin schwer enttäuscht von den Grünen. Die haben gesagt, dass sie keine Waffen liefern. Jetzt tun sie es in einem immensen Umfang und es wird immer mehr, ohne dass etwa ein Ende des Krieges absehbar ist.
TAG24 dankt allen Interviewpartnern!
Titelfoto: Bildmontage: IMAGO/Funke Foto Services, PR/Benjamin Jenak