"Haut 'se tot!": So überlebte ich den größten Knast-Aufstand der DDR

Frankfurt (Oder)/Bautzen - Es war der erste und größte Häftlingsaufstand der DDR: Im März 1950 verwandelte sich Hoffnung in Wut im "Gelben Elend". Nach willkürlichen Urteilen, Krankheits-Ausbrüchen und täglichen Hungersnöten trat ein Großteil der Häftlinge dort in den Hungerstreik. Ihre darüber hinaus skandierten Parolen waren bis in die Innenstadt zu hören. Das ließ das junge SED-Regime nicht auf sich sitzen - und zerschlug den Aufstand mit brutalsten Mitteln. Schauspieler Jochen Stern (heute 96) überlebte. Bei TAG24 erzählt er seine Geschichte.

Jochen Stern nach seiner Entlassung.
Jochen Stern nach seiner Entlassung.  © Gedenkstätte Bautzen

Joachim "Jochen" Stern sprang dem Tod gleich fünfmal von der Schippe. 1928 in Frankfurt (Oder) geboren, musste der "blondgelockte Jüngling" mit gerade einmal 16 Jahren den "Endkampf um Berlin" er- und überleben.

Wenige Tage vor der Kapitulation des Dritten Reichs tauschte er seine Flaksoldaten-Uniform gegen eine kurze Hose und kehrte zurück in seine Heimatstadt.

Weil die sowjetischen Besatzer sämtliche Lehrer feuerten, konnte er im Januar '46 eine Lehrerausbildung beginnen. Wer das aber werden wollte, musste Parteimitglied sein. "Unter Schmerzen" habe er sich für die LDP entschieden, einer Art Ost-FDP, weil Stern mit der neuen SED fremdelte. Das gefiel seinem Schulleiter gar nicht.

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Nach der Ausbildung durfte Stern deshalb zum Beispiel nicht Geschichte unterrichten. In den frühen Morgenstunden des 14. Oktobers 1947 wurde der damals 19-Jährige schließlich von der Geheimpolizei verhaftet.

Verurteilung zu 25 Jahren Haft

Den Spitznamen erhielt das "Gelbe Elend" von den gelben Klinkerfassaden und Mauern.
Den Spitznamen erhielt das "Gelbe Elend" von den gelben Klinkerfassaden und Mauern.  © imago/Stefan Hässler

In einer Kellerzelle gegenüber des Frankfurter "Gelbe Presse"-Hauses wurde ihm Spionage vorgeworfen. Während der Untersuchungshaft auf der Potsdamer Lindenstraße, wo ein Knastfriseur den Blondgelockten kahlrasierte, begriff Stern, was passiert.

Neun Monate verbrachte er in Zelle 7 der ersten Etage, in der die Russen ein Spionage-Geständnis aus ihm herausprügeln und -foltern wollten. Doch Stern hielt stand. Im September wurde "der Spion" trotzdem zu 25 Jahren Haft verurteilt, im Oktober fuhr er in Bautzen ein.

"Ich habe gedacht, wir marschieren von da nach Sibirien", sagte Stern. Doch Stalin hatte gerade Todesstrafe und Taiga-Transporte abgeschafft, weil zu viele Arbeiter umkamen. Und so hauste Stern mit etwa 3200 Mann hinter den gelbgeklinkerten Knastmauern "wie im Karnickelstall".

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Im "Gelben Elend" kam Stern schnell gut zurecht: In den großen Sälen hielten Gefangene Vorträge von Anatomie bis Shakespeare, der Dolmetscher von Joachim von Ribbentrop (einer der Hauptkriegsverbrecher der Nazis) brachte ihm die mafiösen Tauschgeschäfte, der Schneider von Generalfeldmarschall Keitel das Nähen bei.

Doch am Nachmittag des 13. März 1950 hörten sie Geschrei.

Wasserwerfer ohne Wasser

Eine "Ehrenkompanie" Volkspolizisten im Jahr 1949. Schon im Jahr danach war es das wohl mit der Ehre.
Eine "Ehrenkompanie" Volkspolizisten im Jahr 1949. Schon im Jahr danach war es das wohl mit der Ehre.  © picture-alliance/akg-images

Schnell sprang der ganze Saal auf die Bänke vor den vergitterten Fenstern. Am anderen Endes des Areals standen die internierten Staatsfeinde auf ihren Holzbaracken, wedelten mit weißen Fahnen und sangen.

"Wir verstanden nichts, aber erwiderten mit Sprechchören", fährt Stern fort. "Wir rufen das Rote Kreuz!", "Wir sind unschuldig" und "Wir sind krank", hörte man in der Innenstadt - bis die Volkspolizei mit Schläuchen auf dem Hof stand.

"Es war still, als die mit dem Wasserwerfer anrollten. Aber nicht ein Strahl kam da raus", lacht Stern ähnlich doll, wie er wohl vor 75 Jahren lachte.

Die VoPo rückte gedemütigt ab und das Gelbe Elend trat in den Hungerstreik.

Polizeirat brüllt: "Haut 'se tot!"

1996 hat sich Stern durch seine KGB- und Stasi-Akten gewühlt und diese in seinem Buch "Und der Westen schweigt" aufgehen lassen. Das ist ein Auszug seiner Verurteilung.
1996 hat sich Stern durch seine KGB- und Stasi-Akten gewühlt und diese in seinem Buch "Und der Westen schweigt" aufgehen lassen. Das ist ein Auszug seiner Verurteilung.  © Gedenkstätte Bautzen

Am 31. März "hatten wir wieder angefangen zu brüllen. Aber diesmal waren sie vorbereitet. Ich nenne das unseren Teutoburger Wald", sagt Stern - eine Anspielung auf den Sieg der alten Germanen gegen die eigentlich überlegenen Römer.

Hundertschaften stürmten die Säle. Die Alten wurden mit Gummiknüppeln bearbeitet, "dass es nur so rauschte". Die Jungen absolvierten Spießrutenläufe. Stern verkroch sich unter seiner Koje. "Aber die zogen mich raus und ich kriegte Prügel auf den Rücken und in den Nacken. Der Polizeirat schrie durchweg: 'Immer auf die Köppe! Haut 'se tot!', im feinsten Sächsisch."

Wenigstens zwei Stunden lang prügelten Hunderte Volkspolizisten der DDR auf hungernde Männer ein. Allein in Sterns Trakt erlagen zwei Menschen ihren Verletzungen.

"Nach drei Tagen schritt ein russischer Oberst zur Tür herein, fragte: 'Was wollen Sie?', und verschwand", so Stern. Von da an durften sie Briefe schreiben, später Pakete bis zu drei Kilo erhalten. Am 18. Januar 1954, Stalins Tod war kaum zehn Monate her, wurde Jochen Stern nach fast sieben Jahren Haft in die Bundesrepublik entlassen.

Das war und ist Bautzen I

Der Grundriss der Sowjets vom "Gelben Elend".
Der Grundriss der Sowjets vom "Gelben Elend".  © Gedenkstätte Bautzen

Das "Gelbe Elend" wurde als Sächsische Landesstrafanstalt Bautzen 1904 erbaut. Mit seinen großen Sälen, dem grünen Gemüse-Hof und einer Zentralheizung galt der Jugend- und Ersttäterknast als fortschrittlich.

Doch mit den Nazis zogen ab 1933 Drill, Hunger und harte Arbeit in den Häftlingsalltag ein. Politische Gefangene, Juden und "fremdländische" Insassen erhielten Sonderregelungen, viele von ihnen wurden in KZs deportiert.

So auch Bautzens berühmtester Insasse, KPD-Chef Ernst Thälmann (†58), der im August 1944 nach Buchenwald geschickt und dort ermordet wurde.

Die Sowjets internierten zwischen 1945 und 1950 Nazi-Funktionäre und Gefährder in Bautzen - offiziell. Ab 1946 saßen dort vor allem Gegner der Besatzungsmacht. 6000 Insassen übernahm die DDR-Volkspolizei als neuer Hausherr, sie war verantwortlich für die Zustände, die Stern beschreibt.

Auch, wenn ihr Aufstand etwas Besserung errang: Die Zustände blieben katastrophal. Mit 2100 Insassen war der Knast 1989 um 40 Prozent überbelegt. Im Juli 1990 wurde Bautzen I dem wiedergegründeten Justizministerium des Freistaats unterstellt. Heute sitzen Männer in Untersuchungshaft, Haft und in Sicherungsverwahrung darin.

Hier könnt Ihr Jochen Stern kennenlernen

Schauspieler Jochen Stern (96) in seiner Zelle auf der Potsdamer Lindenstraße.
Schauspieler Jochen Stern (96) in seiner Zelle auf der Potsdamer Lindenstraße.  © Bernd Settnik/dpa

Am Sonntag habt Ihr die Möglichkeit, Jochen Stern persönlich kennenzulernen. Das Bautzen-Komitee lädt zur Gedenkveranstaltung.

Neben ihm werden Sachsens Justizministerin Constanze Geiert (48, CDU), Alexander Latotzky (77) vom Bautzen-Komitee und die Landesbeauftragte zur SED-Aufarbeitung Nancy Aris (55) ab 16.30 Uhr sprechen.

Die Veranstaltung findet in der Kapelle an der Gräberstätte auf dem Karnickelberg in Bautzen (Talstraße 14) statt.

Titelfoto: Montage: imago/Stefan Hässler, Bernd Settnik/dpa

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