Die Neue Synagoge Görlitz: "Ein Wunder hoch drei"
Görlitz - Wer sich für die Synagoge in Görlitz interessiert und nach Literatur zum Thema suchte, wurde bislang nicht fündig. Das ist erstaunlich: Tatsächlich hat sich noch nie jemand ausführlich mit dem jüdischen Gotteshaus inmitten der Görlitzer Altstadt befasst. Das überraschte auch Alex Jacobowitz (61). Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Görlitz hat nun ein beeindruckendes Buch unter dem Titel "Die Neue Görlitzer Synagoge" vorgelegt.
Görlitz? Noch nie gehört! Als Alex Jacobowitz zum ersten Mal mit Deutschlands östlichster Stadt konfrontiert wurde, saß er im Berliner Restaurant "Kosher".
Nach Berlin hatte es den aus New York stammenden Marimbaphonspieler 2002 verschlagen. "Berlin war damals, wie New York in den 80er-Jahren einmal war: günstig und multikulturell", erzählt Jacobowitz. Zuvor lebte er auch in Israel.
In dem Lokal habe er Leute aus Görlitz kennengelernt. Es wurde geplaudert und so erfuhr er, dass sie Teil der kleinen jüdischen Gemeinde in der rund 55.800 Bewohner zählenden Stadt waren.
Die Gäste aus Sachsen luden den ausgebildeten Kantor und Klezmermusiker zu sich ein, und so kam Jacobowitz 2008 zum ersten Mal nach Görlitz und sah die riesige, sogenannte Neue Synagoge.
Der imposante neoklassizistische Bau wurde nach den Plänen der Dresdner Architekten William Lossow und Max Hans Kühne errichtet. Beide gehörten damals zu den führenden deutschen Architekten ihrer Zeit.
Nach zwei Jahren Bauzeit wurde die Synagoge 1911 eröffnet und fortan feierten die Gemeindemitglieder hier die Gottesdienste. Doch die Zeiten sollten sich bald ändern.
Von der Pogromnacht blieb auch die Synagoge Görlitz nicht verschont
Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem auch viele Juden für das deutsche Kaiserreich kämpften, verschlechterte sich die Situation für sie in Deutschland zusehends, was sich über die Nürnberger Gesetze (1935) steigerte, zur Reichspogromnacht führte und im Holocaust mündete.
Von der Pogromnacht am 9. November 1938 blieb auch die Synagoge Görlitz nicht verschont. Doch sie überstand den vom nationalsozialistischen Regime organisierten Brand und die gelenkten Gewaltmaßnahmen gegen Juden.
Ende 1938 zählte die Gemeinde in Görlitz nur noch 207 Mitglieder.
Nach 1945 war von der jüdischen Gemeinde in Görlitz kaum noch etwas übrig. Flüchtlinge, die aus Osten kamen, waren kurzzeitig in der Synagoge untergebracht. Später richteten sich einige Einheimische in den Räumlichkeiten Wohnungen ein.
1949 gaben die Sowjet-Besatzer die Synagoge zurück an die Jüdische Gemeinde zu Dresden. Ende 1963 wurde die Stadt Görlitz neue Besitzerin der Synagoge. Bis zur Wiedervereinigung 1989 lebten zwar jüdische Menschen wieder in Görlitz, ein Gemeindeleben gab es jedoch noch nicht.
Zu DDR-Zeiten führte die Nachlässigkeit der damaligen Stadtverwaltung zur weiteren Zerstörung und Plünderungen der Ruine. Erst Ende der 80er-Jahre wuchs das Interesse an jüdischer Kultur in der DDR wieder. Plünderungen wurden nun verhindert, indem die Stadt Fenster und Türen zumauern ließ.
Dass die Synagoge das Feuer in der Kristallnacht, die Nazis, den Zweiten Weltkrieg, die Besatzung und die Vernachlässigung des baulichen Zustands im Sozialismus überstand, nennt Jacobowitz "ein Wunder hoch drei".
"Man kann nicht erst ewig prüfen, bis etwas passiert"
Erste ernsthafte Sanierungen begannen 1991. Doch erst 1996, als alle Eigentums- und Rechtsfragen endlich geklärt waren, konnte mit der Instandsetzung der Synagoge begonnen werden.
2005 wurde schließlich auch die Jüdische Gemeinde Görlitz/Zgorzelec und Umgebung e.V. ins Leben gerufen.
Nach fast 30 Jahren Sanierung - mit vielen Baustopps und einem Finanzierungs-Aus - ist die Synagoge in Görlitz am 12. Juli dieses Jahres als Kulturforum wiedereröffnet worden, unter anderem in Anwesenheit des sächsischen Ministerpräsidenten, Michael Kretschmer (46, CDU).
Offen sein soll sie für alle: als Synagoge für jüdische Gottesdienste und als Konzertsaal für Veranstaltungen. Dafür gibt es einen Hauptraum (Kuppelsaal) für 300 Gäste und einen kleineren (Wochentags-Synagoge) für 30.
Doch wie sieht es mit dem Sicherheitskonzept aus? "Das gibt es nicht wirklich", sagt Alex Jacobowitz. "Die Synagoge wurde für 12,6 Millionen Euro aus Steuergeldern saniert und dann ist kein Geld für die Sicherheit mehr da? Sie und ihre Besucher müssen geschützt werden!" Das haben die Vorfälle in Halle, Hagen oder Hamburg klar deutlich gemacht. "Man kann nicht erst ewig prüfen, bis etwas passiert."
Die Mitarbeiter seien trainiert und wüssten, was im Falle eines Attentates zu tun wäre. Ansonsten gibt es nur "ein paar Überwachungskameras. Das mag Sicherheit simulieren: Man denkt, dass man Sicherheit hat. Es gibt aber Leute, die wollen Synagogen auf deutschem Boden nicht sehen."
Von der Stadt als Besitzerin des Gebäudes hätte Jacobowitz hier mehr Weitsicht erwartet.
Hakenkreuzschmiererei an der Synagoge
Im nächsten Jahr soll auch der Davidstern auf der Kuppel der Synagoge wieder angebracht werden. Mehr als 70.000 Euro Spenden wurden dafür gesammelt. So sehr Jacobowitz das freut, so sehr bereitet es ihm auch Sorgen. Plant die Polizei dann entsprechende Sicherheitsmaßnahmen?
"Zu Maßnahmen der Polizei zum Schutz möglicher gefährdeter Objekte können wir aus polizeitaktischen Gesichtspunkten keine Auskunft geben, um die Wirksamkeit von entsprechenden Schutzmaßnahmen nicht zu gefährden", erklärte die Sprecherin der Polizei Sachsen, Anja Leuschner, auf Anfrage von TAG24.
Ob es in der Vergangenheit in Görlitz antisemitische Vorfälle, Hetze oder Beleidigungen auf jüdische Bewohner in Görlitz oder jüdische Gäste der Stadt gab? "Der Polizei sind keine derartigen Sachverhalte bekannt", die Polizeisprecherin weiter.
Allerdings: "Im März 2020 wurde ein Verfahren wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen geführt." Auf dem jüdischen Friedhof an der Biesnitzer Straße wurde bei einem Grabstein eine SS-Rune festgestellt. Mitte Juni vergangenen Jahres wurden zudem zwei Stolpersteine auf der Bismarckstraße beschmiert.
An der Synagoge selbst kam es 2010 zu Hakenkreuzschmierereien, erzählt Jacobowitz. Auch die Holztür sei damals damit beschädigt worden. "Erst nach Jahren wurden die Hakenkreuze vollständig entfernt." Vonseiten der Verantwortlichen findet er das unambitioniert.
In jüngster Zeit gab es nach Angaben der Polizei vor allem kleinere Delikte. Zweimal randalierten auf den Treppen der Synagoge Jugendliche, die von der Polizei des Platzes verwiesen wurden beziehungsweise schon vorher das Weite gesucht hatten. Beschädigungen wurden nicht festgestellt.
Zusammenhang zwischen Architektur und Theologie
Die Angst vor einem Angriff auf die Synagoge bleibt trotzdem. Jacobowitz erwartet zwar "nichts Konkretes". Doch "das Haus kann man nicht nur teilweise schützen. Ein Attentat könnte sich gegen das ganze Gebäude richten. Terroristen werden nicht zwischen den 30 Gemeindemitgliedern und nichtjüdischen Gästen unterscheiden."
Überhaupt wünscht sich der 61-Jährige einen anderen Umgang des Stadtrates mit der neuen Synagoge. Selbst Michael Kretschmer hob den Bau bei der Wiedereröffnung auf eine Ebene mit der Wartburg und dem Kölner Dom. "Das ist ein nationales Denkmal", sagt Jacobowitz. Ein Denkmal, das nicht nur für touristische Zwecke vermarktet oder schöne Konzerte herhalten dürfe, sondern als das gesehen werden soll, was es schon immer war: eine Synagoge!
Deshalb ärgert ihn auch, dass bestimmte Details bei der Restaurierung übergangen oder nicht originalgetreu nachgebildet wurden. Etwa bei den zehn großen Fenstern an der Südwand. Dorthin gehören eigentlich die Zehn Gebote, die völlig verschwunden sind.
"Es gibt einen Zusammenhang zwischen Architektur und Theologie. Das muss man verstehen."
Dokumente aus Jerusalem fanden ihren Weg nach Görlitz
Größtenteils nicht restauriert blieb auch die jüdische Symbolik, etwa Davidsterne, Zitate aus der Bibel und ewige Lampen. Diese ist zwar im kleinen Saal zu sehen, fehlt jedoch in dem großen. Absicht? Gut möglich, glaubt Jacobowitz. Dabei hätten die Verantwortlichen ihn nach solchen Details nur fragen müssen. Denn Jacobowitz hat zwölf Jahre lang zu dem Thema recherchiert. "Als ich damit anfing, wusste ich nicht, dass ich am Ende ein Buch schreibe."
Als es mit Corona losging, konnte er viele Archive zwar nicht mehr persönlich besuchen und musste sich auf die Mitarbeiter verlassen. Doch selbst Dokumente aus Jerusalem fanden ihren Weg zu ihm. Etliche zeitgeschichtliche Unterlagen aus Görlitz sind im Besitz von Nachkommen ausgewanderter Juden. Aus ihnen erfährt man, was wirklich passiert ist. Und wer ein guter Mensch war - und wer nicht.
Am 3. Oktober (11 bis 12 Uhr und 12 bis 13 Uhr) führt Alex Jacobowitz Interessierte wieder durch die Synagoge. Die Führungen finden an jedem ersten Sonntag im Monat statt. Anmeldung beim Kulturforum Görlitzer Synagoge, Telefon 03581 672411.
Titelfoto: Montage: Simone Bischof, Nikolai Schmidt, Verlag Hentrich & Hentrich