Erst der Wolf, bald die Bagger: Letztes Dorf muss für die Kohle weichen
Boxberg - Das Ende der Welt wächst im Nordosten Sachsens: Der Oberlausitzer Tagebau Nochten frisst im kommenden Jahr sein letztes Dorf. Während die einen sich längst mit ihrem Schicksal abfanden, kämpften andere um das letzte bisschen Mühlrose - vergeblich. Ein Besuch vor Ort.
Ein Wolf sucht nach Verwertbarem in den Asbestabfällen der Hausnummer 17. Am Ende derselben Sackgasse, in der sich wohl ein ganzes Rudel niederließ, stand einst eine Kita.
Eine Straße weiter beherbergte Mühlrose sogar ein Schwimmbad. Beides längst abgerissen, von den Häusern der einst 700 Einwohner sind heute kein Dutzend mehr da.
"Meine Mutter ist kurz vor Weihnachten gestorben", sagt Dietmar Zech (66). "Ihr war das am Ende zu viel."
Sein Leben lang wohnte Zech hier am Nochtener Weg, kämpfte bis zuletzt ums Bleiberecht. Seine Frau Linda Honko (67) zeigt aufs Feld gegenüber: "Wenn im Mai die Mohnblumen blühten, war das alles rot. Dann kamen die Kohlrüben und alles war blau."
Ab dem heutigen Mittwoch wird dort alles Braunkohle-schwarz.
Unter Mühlrose befinden sich 150 Millionen Tonnen Kohle
Mühlrose ist der letzte Ort im Freistaat, der für den Braunkohletagebau weichen muss. Der schmutzige Grund: Unter dem Dorf befinden sich rund 150 Millionen Tonnen Kohle.
Tagebaubetreiber Lausitz Energie Bergbau AG (LEAG) geht davon aus, dass die Menge gebraucht wird, um das Kraftwerk Boxberg bis Ende 2038 "unterbrechungsfrei und bedarfsgerecht" beliefern zu können.
Schon im Januar werden die letzten Straßen im alten Dorf für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Die LEAG hofft darauf, dass die noch bewohnten Grundstücke innerhalb des ersten Quartals 2025 aufgegeben werden. "Unser Stichtag ist der 13.", so Zech weiter.
35 Jahre lang arbeitete er "in der Kohle". Erst für Vattenfall, später für die LEAG. An diesem kalten Tag trägt er eine LEAG-Fleecejacke. Im Januar wird seine alte Firma das Haus abreißen, das einst sein Vater erbaute.
Laut dem Heimatforscher Robert Pohl (†87) wurde das Dorf wohl im 12. Jahrhundert von sorbischen Siedlern gegründet. Während des Dreißigjährigen Kriegs ging es 1631 in Flammen auf. Doch die Standesherrschaft Muskau - die größte der vier Lausitzer Herrschaften - ließ es alsbald neu errichten.
Erste Mühlroser schon in 1960er-Jahren umgesiedelt
Nach der LPG "Frohe Zukunft" dominierte der Braunkohleabbau die Region. Schon in den 1960er-Jahren wurden die ersten Mühlroser umgesiedelt, eine zweite Welle folgte Anfang der 70er. Seitdem sind die letzten Einwohner von Kohlebahnen umzingelt.
"Ich hätte das ganze Grundstück gekauft. Hier ist es so schön", sagt Sven Hofmann (47). 94 Kilometer weit fuhr er für Zechs eBay-Annoncen. Bis auf den letzten Pflasterstein versucht das Ehepaar, alles zu verkaufen, was weggeht. "Aber wenn man das Gas abschaltet, Atom abschaltet - wo soll denn die Energie sonst herkommen?"
Neu-Mühlrose wurde im Herzen des Nachbarorts Schleife errichtet. "Wer will denn noch dort leben?", fragt Siedlerin Annemarie (76). Sie zog von einem 4-Seiten-Hof in eine kleine Wohnung - "Super! Ich muss mich nicht mehr kümmern."
Die 38 bebauten Grundstücke seien neben Rohne und Mulkwitz nun ein weiterer Ortsteil der Gemeinde, beteuerte Bürgermeister Jörg Funda (59, CDU). Doch die kalkweißen Hauswände sprechen eine eigene, seelenlose Sprache.
Bis vor Kurzem erinnerte ein Gedenkstein im Dorf an den letzten einheimischen Wolf, der dort am 14. Dezember 1845 erlegt wurde. Jetzt streift Isegrim wieder durch Mühlrose, was noch wie eine Halbinsel im 28 Fußballfelder großen Tagebau ruht. Schon bald bleibt das Rudel unter sich.
Titelfoto: Bildmontage: Holm Helis (2)