Ärztemangel, Landflucht, Bürokratie: Kassenärzte warnen vor Praxenkollaps

Sachsen - Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und ärztliche Berufsverbände schlagen schon länger Alarm: Das ambulante System sei in Not, viele Praxen stünden vorm Kollaps. In einer Bundestagspetition mit 545.000 Unterstützern, die am 19. Februar in den Petitionsausschuss kommt, formulieren die niedergelassenen Ärzte ihre Forderungen.

TAG24 sprach mit Dr. Sylvia Krug (66), Stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KV Sachsen und Fachärztin für HNO-Heilkunde, über den drohenden Praxenkollaps im Freistaat.

Dr. Sylvia Krug (66), Stellvertretende Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Sachsen, hofft, dass die niedergelassenen Ärzte in diesem Jahr endlich Gehör finden werden.
Dr. Sylvia Krug (66), Stellvertretende Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Sachsen, hofft, dass die niedergelassenen Ärzte in diesem Jahr endlich Gehör finden werden.  © Steffen Füssel

TAG24: Dr. Krug, ist der Praxenkollaps in Sachsen schon da?

Sylvia Krug: Es ist noch fünf vor zwölf. Die haus- und fachärztlichen Praxen arbeiten am Limit. Aber es gibt schon Regionen, in denen die Menschen keinen Haus- oder Facharzt mehr haben. Wo wirklich Unterversorgung herrscht. Aber es fehlen nicht nur Ärzte, sondern auch das medizinische Personal. Bei Letzterem stehen wir mit den Kliniken und Krankenhäusern in Konkurrenz.

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Krug: Das Wichtigste ist die Entbudgetierung der hausärztlichen Leistungen. Das ist ein ganz wichtiges Signal, auch für die Wertschätzung der Arbeit. Das Gesetz soll noch 2024 kommen. Außerdem soll bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung eine Bagatellgrenze eingeführt werden, unter der kein Regress mehr ausgesprochen wird. Damit könnten 80 Prozent der Prüfungen abgeschafft und die Entbürokratisierung vorangebracht werden.

TAG24: Gehen Ihnen die Pläne weit genug?

Krug: Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber der nächste Schritt muss die Entbudgetierung der Fachärzte sein. Der gesamte Gesetzesentwurf muss noch weiterentwickelt werden.

Streiken bald unsere Hausärzte? So brenzlig ist die Situation wirklich

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (60, SPD) hat erste Neuerungen angekündigt.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (60, SPD) hat erste Neuerungen angekündigt.  © imago/Chris Emil Janßen

TAG24: Wären zur Durchsetzung von Forderungen auch mehrtägige Praxisschließungen vertretbar?

Krug: Wenn diese von Berufsverbänden organisiert werden, dann ja. Die KV als Körperschaft öffentlichen Rechts kann nicht zum Streik aufrufen. In Fällen von Schließungen muss dann natürlich eine Notversorgung gewährleistet werden.

TAG24: Was bei den aktuellen Forderungen kaum eine Rolle spielt: Allein in Sachsen fehlen über 400 Hausärzte und zahlreiche Regionen im ländlichen Raum sind unterversorgt. Glauben Sie, dass sich mit den Zugeständnissen des Ministers daran etwas ändern wird?

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Krug: Das wird nicht ausreichen. Wir als KV sind für die Sicherstellung zuständig. In den städtischen Regionen haben wir keine größeren Probleme bei der Versorgung, in ländlichen ist es hingegen teilweise sehr schwierig. Es müssen vielmehr die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrachtet werden. Wenn es keine Bushaltestelle mehr gibt, keine Schule in der Nähe ist, kein Kindergarten da ist, ist es schwer, einen Arzt zu motivieren, in die Region zu gehen.

Hausärzte-Knappheit auf dem Land: Das hat die Work-Life-Balance damit zu tun

Laut KV Sachsen wählen zwar immer mehr Medizinstudenten die Allgemeinmedizin, aber im ländlichen Raum kommen die Ärzte dann nicht an. (Symbolbild)
Laut KV Sachsen wählen zwar immer mehr Medizinstudenten die Allgemeinmedizin, aber im ländlichen Raum kommen die Ärzte dann nicht an. (Symbolbild)  © imago/Sebastian Willnow

TAG24: Was macht also die KV Sachsen?

Krug: Wir versuchen, über viele Kanäle Ärzte in die unterversorgten Regionen zu holen. Das fängt beim Studium an. Wenn Medizinstudenten sich verpflichten, Allgemeinmedizin zu studieren, können sie mit einem Hausarztstipendium gefördert werden. Wir fördern auch das Studium für 40 angehende Mediziner in Ungarn. 2013 haben wir mit dem Programm begonnen und die ersten Ärzte, die sich fünf Jahre für eine Niederlassung im ländlichen Raum verpflichtet haben, kommen nun zurück. Über einen Strukturfonds fördern wir zudem die Niederlassung in unterversorgten Regionen.

TAG24: Kann man nicht wie bei Lehrern dazu übergehen, auch Ärzte zu entsenden?

Krug: Der Arzt-Beruf ist ein freier Beruf. Wir können keinen Arzt verpflichten, an einen bestimmten Ort zu gehen. Das gab es mal zu DDR-Zeiten.

TAG24: Lässt denn generell die Bereitschaft, sich niederzulassen, nach?

Krug: Ja. Die Zahl der freien Niederlassungen geht zurück, während die Zahl der angestellten Ärzte zunimmt. Das hängt auch mit der Lebensplanung zusammen. Gesamtgesellschaftlich geht der Trend zu mehr Work-Life-Balance. Vielen Ärzten ist Freizeit zunehmend wichtiger als Geld.

TAG24: Dann braucht es quasi mehr Ärzte, um die freien Stellen zu besetzen?

Krug: Das stimmt. Wir brauchen immer häufiger zwei Ärzte für eine Praxisstelle.

Weniger Bürokratie und Budgetabschaffung: Das sind die Kernforderungen der Ärzte

Weil Hausärzte fehlen, steigt die Belastung der noch vorhandenen Praxen. Mancherorts hilft aber auch das nicht gegen die Unterversorgung. (Symbolbild)
Weil Hausärzte fehlen, steigt die Belastung der noch vorhandenen Praxen. Mancherorts hilft aber auch das nicht gegen die Unterversorgung. (Symbolbild)  © 123RF/Elnur

• Tragfähige Finanzierung! Die Finanzierung einer Praxis muss dafür reichen, den Praxisbetrieb aufrechtzuerhalten, Mitarbeiter zu bezahlen, gestiegene Betriebskosten abdecken zu können und auch dem Arzt ein auskömmliches Gehalt zu ermöglichen. Das ist derzeit nicht überall der Fall.

• Abschaffung des Budgets! Aktuell werden Ärzte aus einem gemeinsamen Topf, der nach bestimmten Schlüsseln auf die Fach- und Hausärzte aufgeteilt wird, bezahlt. Dieser ist gedeckelt. Steigt also die Zahl der Leistungen, sinkt die jeweilige Auszahlung, sodass die Leistung nicht zu 100 Prozent ausgezahlt wird.

• Ambulantisierung! Die Verlagerung von stationären Leistungen im Krankenhaus in den ambulanten Bereich soll künftig auch entsprechend bezahlt werden.

• Sinnvolle Digitalisierung! Digitalisierung ja, aber nur mit ausgereiften, durchdachten und praktikablen Lösungen, um einen Mehrwert für Arzt und Personal zu bringen.

• Mehr Weiterbildung in Praxen! Junge Ärzte sollten unter anderem in niedergelassenen Praxen weitergebildet werden, damit sie den Praxisalltag kennenlernen und für ländliche Regionen begeistert werden können.

• Weniger Bürokratie! Schätzungsweise 20 bis 30 Prozent der Praxiszeit werden für Büroarbeiten und Ähnliches aufgewendet. Prozesse sollen deshalb vereinfacht werden.

• Keine Regresse! Für "falsch" verordnete Medikamente und Heilmittel kann der Arzt bislang in Regress genommen werden.

Titelfoto: Bildmontage: Steffen Füssel; imago/Sebastian Willnow

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