Vom wohlhabenden Geschäftsmann auf die Straße: Immer mehr Menschen mit Existenzängsten
Von Thomas Schöne
Halle (Saale) - Es ist eine Lage, in der wohl niemand gerne stecken würde. Trotzdem sind in Deutschland viele Menschen von Armut und Obdachlosigkeit betroffen. Unter anderem eine private Initiative hilft, die Not zu lindern.
In Halle gibt es seit Ende 2020 den Bus "Vierjahreszeiten". Das Projekt wird privat vom gleichnamigen Verein betrieben.
Anlass für Gründer David Strübing war der Kältetod eines Obdachlosen, den er vom Sehen her kannte.
Seitdem fährt der Bus an drei Tagen in der Woche, bei Minusgraden sogar jeden Tag, feste Stationen in der Stadt Halle an.
Das Motto des Vereins ist: "Helfen, wo die Not am größten ist." Verteilt werden warme Suppe, Schnitten, Obst, Gemüse sowie auch mal etwas Süßes. Bei Bedarf werden Hygieneartikel, Bekleidung, Schlafsäcke und Isomatten ausgegeben. Alle Artikel kommen aus Spenden.
"Pro Tag kommen 80 bis 120 Menschen, das sind im Durchschnitt 30 Menschen mehr als im Vorjahr", sagt Strübing.
Wer möchte, kann sich im Bus bei einem Beratungsgespräch Hilfe für Behördengänge holen sowie Unterstützung beim Ausfüllen von Anträgen.
Existenzschwierigkeiten können jeden treffen
"Die Menschen, die zu uns kommen, sind in Existenzschwierigkeiten", sagt der Leiter der Wärmestube Halle, Heiko Wünsch.
Und es kann jeden treffen. Ein Geschäftsmann sei in die Wärmestube gekommen - mit 8.900 Euro Mietschulden. Er habe von den Problemen lange nichts bemerkt, weil er seiner Bürohilfe blind vertraut habe.
In dem Fall sei es darum gegangen, die Räumungsklage zu verhindern. In einem anderen Fall wurde eine Frau nach dem Tod ihres Mannes von dessen erbberechtigten Kindern aus der Wohnung gedrängt.
"Das Problem allgemein ist, dass die Behörden mit der Bearbeitung der Anträge Wohngeld nicht so schnell hinterherkommen. Beim Wohngeld wartet man bis zur Bewilligung im Durchschnitt ein dreiviertel bis ein Jahr. Und wenn die Menschen kein Geld bekommen, dann kommen sie zu uns und fragen, was soll ich jetzt machen", sagt Wünsch.
Problematisch sind die Tage vor und nach dem Fest, weil die meisten Behörden und Ämter geschlossen sind.
Mehr Bedürftige bei den Bahnhofsmissionen
Es werden immer mehr Bedürftige, bestätigt auch die Leiterin der Bahnhofsmission Halle, Heike Müller.
"An den Wochenenden kommen manchmal über 100 Gäste, das war früher nicht so. Viele Leute haben Hunger und wir geben viele Lebensmittel aus", sagt Müller.
"Etliche Menschen aus anderen EU-Ländern sind hier gestrandet. Die Aggressivität und Unzufriedenheit ist höher geworden, dazu kommen psychische Erkrankungen. Das macht alles schwieriger und komplexer.
Die Leute haben auch Ängste, dass die neue Regierung das Bürgergeld abschafft."
Die Zahl der Obdachlosen landesweit zu beziffern, ist schwierig, die Dunkelziffer ist groß. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes waren Ende Januar dieses Jahres 985 Menschen aufgrund von Wohnungslosigkeit Räume zur Verfügung gestellt worden.
Ein Jahr zuvor waren es zum Stichtag 1980 Personen. Schwankungen sind den Angaben zufolge üblich, weil Obdachlose zwischen den Bundesländern wechseln.
Titelfoto: Montage: dpa/Jan Woitas