Wie wurde vor 100 Jahren eigentlich gesprochen?
Halle (Saale) – Es ist ein eigenartiger Apparat. Eine Walze aus Wachs dreht sich langsam, während eine Nadel in das weiche Material eine Linie drückt. Aber wozu?
Der kleine schwarze Kasten war vor über Hundert Jahren eine Weltsensation. Ein Menschheitstraum ging in Erfüllung: Töne und gesprochene Wörter konnten erstmals für die Nachwelt gespeichert werden. Dafür musste man in einen Metalltrichter sprechen und die Wachslinie konservierte den Schall: Das Diktiergerät war erfunden.
In der Phonetischen Sammlung der Universität Halle ist so ein Apparat aus den Zwanzigerjahren zu sehen. Überhaupt, es ist eine Zeitreise durch die Welt der Abspiel- und Aufnahmegeräte vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.
"Der Privatdozent Otto Bremer begann im Jahr 1910 mit dem Aufbau der Sammlung", sagt die Professorin für den Bereich Sprechwissenschaft und Phonetik der Universität Halle, Susanne Voigt-Zimmermann. "Auslöser war Bremers Bestreben, als Mundartenforscher Dialekte und menschliche Stimmen festzuhalten und zu archivieren."
Der Parlograph bot ihm erstmals diese Möglichkeit. Das frühe Diktiergerät hatte der schwedische Techniker und Fabrikant Carl Lindström aus dem von Thomas Alva Edison erfundenen Phonographen entwickelt und es ab 1910 produziert. "Literarisch überhöht diente das Gerät Franz Kafka als Vorbild für seine Foltermaschine in der Erzählung 'In der Strafkolonie'", sagt Voigt-Zimmermann. Hintergrund war wohl, dass Kafkas Freundin Felice Bauer bei Lindström arbeitete.
In einem Brief vom Januar 1913 schrieb Kafka an Felice: "Ich sehe schon die kleinen Automobile der Lindström A.-G., mit welchen die benutzten Walzen dieser Parlographen eingesammelt und frische Walzen gebracht werden."
Menschen sprechen heute schneller und tiefer
Im Schallarchiv der "Phonetischen Sammlung" existieren 120 Wachswalzen mit Sprachaufnahmen unter anderem von Mundarten, Fremdsprachen, Prosatexten und akustischen Versuchen.
Die älteste Walze stammt vom 13. Dezember 1910. Darauf sind Reden und Einzellaute zu hören.
"Bremer bewahrte auch das Wangerooge Friesisch, einen längst ausgestorbenen Dialekt, vor dem Vergessen", sagt Voigt-Zimmermann. Dafür reiste er 1924 und 1925 auf die Nordseeinsel und ließ die Inselbewohner sprechen.
Zu hören ist beispielsweise die 81-jährige Johanna Wilters mit Erzählungen aus ihrem Leben.
"Hätte es damals nicht diese Technik gegeben, würden wir heute nichts über diese Mundart wissen und allgemein über das Sprechen vor über einhundert Jahren", sagt die Wissenschaftlerin.
"Im Vergleich sprechen die Menschen heute schneller und tiefer als noch vor einigen Jahrzehnten", sagt die Wissenschaftlerin Voigt-Zimmermann während sie an einem Anschauungsmodell, den Aufbau des menschlichen Stimmapparates erklärt.
Stimmen von Kaiser Wilhelm II., Erich Kästner und Thomas Mann
"Insgesamt umfasst die Phonetische Sammlung verschiedene Grammophone, eine Auswahl von Schalltrichtern sowie Schallplattenspieler, dazu rund 1250 Schellackplatten, 2500 Magnettonbänder dazu moderne Tonträger wie Vinylplatten, Audio-Kassetten, CDs und DVDs", sagt der verantwortliche Diplom-Ingenieur Peter Müller.
"Darunter sind Raritäten wie die Stimmen von Gerhart Hauptmann, Kaiser Wilhelm II., Graf Ferdinand von Zeppelin, Erich Kästner, Thomas Mann, Karl Zuckmayer sowie eine historische Rede vom letzten König von Bayern Ludwig III. vom 26. März 1918, anlässlich einer Jahrhundertfeier."
Der Schatz der Töne soll in Zukunft für Interessierte hörbar bleiben. "Im Rahmen eines Programms wird alles digitalisiert", sagt die Professorin.
Die Sammlung sei etwas Besonderes. In Deutschland gebe es etwas ähnliches nur in Dresden. "Dort finden sich auch die Stücke aus den Sammlungen der Universitäten Berlin und Hamburg."
Titelfoto: Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/ZB