Neuer Fotoband "Endlich seid ihr da!": Als die DDR ging und der Westen kam
Halle (Saale) - Als Berlin noch durch die Mauer geteilt war, lebte Cordia Schlegelmilch im Westen. Ein paar Monate später, noch vor der Wiedervereinigung, war sie im Osten unterwegs - mit der Fotokamera. Ihre berührende Dokumentation ist jetzt ein Buch.
"Endlich seid ihr da!", so heißt der Band, im Untertitel: "Als die DDR ging und der Westen kam." Damals, 1989 und 1990, habe sie sich in einer beruflichen Umorientierung befunden, schreibt die 72-Jährige im Buch. Sozialforscherin war sie, beschäftigt als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin. Das neue Berufsbild war das einer freiberuflichen Fotografin.
Nun bot sich für sie die Chance, die Fotografie mit dem bisherigen soziologischen Interesse zu verbinden, wie sie schreibt: "Ich wollte am Alltag des 'anderen Deutschlands' teilnehmen und für eine gewisse Zeit in einer Stadt der bald schon ehemaligen DDR wohnen und erforschen, wie sich das Zusammenleben in dieser Stadt nach dem Fall der Mauer ändern und wie die Menschen den Zusammenbruch der DDR biografisch verarbeiten würden."
Umso spannender war das Projekt für die Fotografin, da sie selbst aus der DDR stammte. 1952 in Magdeburg geboren, waren die Eltern mit ihr in den Westen gegangen, als sie noch ein Vorschulkind war.
Schlegelmilch durchstreifte Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Besondere Aufmerksamkeit widmete sie der Stadt Wurzen, über die sie zwischen 1990 und 1996, unterstützt von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur ihres Begründers Jan Philipp Reemtsma (71), eine Langzeitstudie schuf.
Cordia Schlegelmilch fängt die besonderen Momente ein
Das Buch ist eine Zeitreise durch Orte wie Naumburg, Magdeburg, Zerbst, Oschersleben, Halberstadt, Staßfurt, Halle, Dessau, Döbeln, Dresden, Leipzig, Hoyerswerda oder Wurzen. Die Aufnahmen entstanden mit einer Spiegelreflexkamera, Negativ- und Diafilme oftmals der DDR-Marke Orwo.
Sie zeigen Stadt- und Ortslandschaften im Detail wie in Totale - Häuser, Straßenfluchten, Autos, Geschäfte - und immer wieder Menschen in ihrem natürlichen Lebensumfeld, nichts ist gestellt oder arrangiert.
Die Aufnahmen geben in Farbe oder Schwarz-Weiß das ausschnitthafte Abbild eines Landes, das noch die DDR war und doch schon nicht mehr. Der Westen hielt Einzug. Die Bilder drücken Reserviertheit aus, Unsicherheit, nicht Triumph.
Vielsagend die Aufnahmen eines Marktplatzes in Wurzen, drei ältere Damen, die Würstchen essend skeptisch in die Kamera schauen, am Rande ein Wahlplakat der DSU, oder vom Dresdner Hauptbahnhof, wo ein Burger-Multi aus einem Wagen heraus seine Fleischklops-Brötchen verkauft, davor eine Menschenschlange.
Fotoband zeigt ehemalige DDR aus einem anderen Blickwinkel
Sie habe die Aufnahmen erst in den zurückliegenden Jahren wieder gesichtet und bearbeitet, so Schlegelmilch. Wie lange noch wird sich das DDR-Typische wohl noch halten, habe sie sich gefragt, als sie 1990 unterwegs war. Mit Blick auf die Stadtbilder heute ist nicht viel davon geblieben, muss die Antwort wohl lauten.
Im Gemüt derer, denen die DDR Lebenswirklichkeit war, wird sich beim Betrachten der Bilder eine Empfindung distanzierter Vertrautheit einstellen. Cordia Schlegelmilchs Buch ist ein Fotodokument aus besonderem Blickwinkel über eine Zeit, die noch nicht ausgedeutet ist.
Titelfoto: Cordia Schlegelmilch