Kampfmittel in Sachsen-Anhalt: Munition und Granaten sind weiterhin eine Gefahr
Magdeburg - Fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs liegen vor allem im Osten Deutschlands immer noch Munition und Blindgänger in den Wäldern. Der Klimawandel macht sie zu einer größeren Gefahr.
In dem kleinen Waldstück bei Tangerhütte (Landkreis Stendal) deutet nichts auf die explosive Geschichte der Gegend hin. Der Wind bewegt die Äste der Kiefern leicht, auf dem knöchelhohen Gras perlen Regentropfen.
Vögel zwitschern, eine Suchsonde klackert elektrisch vor sich hin, als sie über den Waldboden geschwungen wird. Der Ton surrt höher. Wieder einmal. Am Rand der Wiese stapeln sich mehrere Granaten, Zünder und Splitterteile auf einem abgesägten Baumstumpf.
"Es hätte mich auch sehr gewundert, wenn wir hier nichts gefunden hätten", sagt Torsten Kresse. Er ist Einsatzleiter beim Kampfmittelbeseitigungsdienst Sachsen-Anhalt.
Das Bundesland ist nach Ansicht des Experten stark mit Kampfmitteln belastet, vor allem mit bisher unentdeckten Hinterlassenschaften aus den Weltkriegen. "Vom Osten kamen die Russen, vom Westen die Alliierten, hier traf das aufeinander", sagt Kresse.
Soldaten hätten außerdem teilweise ihre Waffen im Wald vergraben oder in Teiche geworfen, als sie kapitulierten.
Gepanzerte Fahrzeuge der Bundeswehr sollen helfen
Jetzt liegen immer noch Tausende Tonnen Kampfmittel in den Wäldern in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen. Das Problem: Bei Waldbränden, die es in den vergangenen Jahren in der Region immer häufiger gab, stellen die Kampfmittel eine echte Gefahr dar.
Bei ihrem Abschlussbericht zu den Waldbränden 2022 in Sachsen kam eine Expertenkommission unter anderem zu dem Schluss, dass auch munitionsbelastete Flächen die Löscharbeiten erschwert hätten.
Und erst im April dieses Jahres wies Waldbrandexperte Prof. Hermann Schröder im Innenausschuss des Deutschen Bundestages darauf hin, dass es auch in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt teilweise auf munitionsbelasteten Waldflächen gebrannt habe.
Weil eine rasche Räumung der belasteten Flächen nicht möglich sei, solle künftig der Einsatz von gepanzerten Fahrzeugen der Bundeswehr bei der Brandbekämpfung geprüft werden.
Im Wald bei Tangerhütte holt das Team von Torsten Kresse gerade eine rund 45 Kilogramm schwere Granate aus dem sandigen Boden. Die Forstverwaltung hatte den Auftrag zur Sondierung des Areals erteilt.
Das Waldstück soll neu bepflanzt werden. Es sind diese Aufträge, die den Kampfmittelbeseitigungsdienst beschäftigen.
Mehrere Tonnen Kampfmittel im Jahr
Hinzu kommen fast täglich Munitionsfunde von Bürgern, etwa Meldungen von Pilzsammlern, Anglern oder Bauarbeitern.
Rund 66 Tonnen Kampfmittel wurden in Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr gefunden. In Brandenburg waren es 438 Tonnen, in Sachsen 150 Tonnen.
Die Zahlen schwankten jedes Jahr, sagt KBD-Einsatzleiter Kresse. Wenn viel gebaut werde, dann werde auch mehr untersucht und gefunden.
Nur selten hätten Funde für die Bevölkerung größere Auswirkungen, etwa als im vergangenen April bei Leuna (Landkreis Saalekreis) eine Fliegerbombe gesprengt wurde und die Gegend evakuiert werden musste.
Oder bei den zahlreichen Bombenfunden auf dem Gelände des neuen Nachwuchsleistungszentrums des Halleschen FC.
"In den Städten findet man eher selten etwas", sagt Kresse. In seinem Büro hängt eine "Kampfmittelbelastungskarte" von Sachsen-Anhalt: 803 Quadratkilometer bombardierte Areale sind eingetragen, dazu mehr als 1100 Quadratkilometer militärisch genutzte Fläche.
Betroffen ist vor allem die Gegend rund um Magdeburg, südlich von Merseburg bei Bad Dürrenberg und östlich von Dessau - die alten Industriestandorte.
Noch viele Jahre beschäftigt
Auch das Waldstück bei Tangerhütte ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Fundgrube. Denn ab 1880 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wurde hier Munition der Krupp-Gruson-Werke auf einer 70 Meter breiten Schießbahn getestet.
Das Aufspüren der Blindgänger und Munition ist aufwendig. Mit der Sonde geht der kleine Trupp das Waldstück ab. Immer, wenn die Sonde anschlägt, kommt der Spaten zum Einsatz. Bei Funden in mehreren Metern Tiefe auch der Bagger.
Als er angefangen habe mit dem Job, erzählt Kresse, habe er sich schon gefragt, ob er irgendwann "arbeitslos" sein würde.
Jetzt, nach mehr 20 Jahren im Dienst, ist dem 54-Jährigen klar: "Es reicht bis zur Rente und darüber hinaus."
Titelfoto: Thomas Frey/dpa