DDR-Regime: Familie flüchtet mit Kinderwagen vor Verhaftung
Von Anke Brod
Bad Dürrenberg/Goddula - Der Schmerz ist so groß, dass selbst sieben Jahrzehnte später beim Erzählen noch die Tränen kommen: Im TAG24-Gespräch berichtet Erika Ranscht (94) aus Goddula (Saalekreis), wie sie Ostern 1953 mit Ehemann Achim (damals 24) und ihrer damals einjährigen Tochter Bärbel (heute 72) ins Ungewisse floh. Ihr dortiger Hof sollte durch das ehemalige DDR-Regime enteignet werden - es drohte die Verhaftung!
"Ich wendete mich nicht", gibt Erika in Gegenwart ihrer zweiten Tochter Marietta (66) fast tonlos das verstörende Gefühl wieder, als sie an jenem Nachmittag nur mit Handtasche und ein paar Windeln im Kinderwagen die Heimat verließ. "Als würden wir spazieren gehen", beschreibt sie den äußeren Anschein.
Hätten seinerzeit nämlich etwa ein Staatsfunktionär oder ein Spitzel von dieser Aktion Wind bekommen, wären Achim und auch ihr Vater Kurt Gürtzsch (damals 51) als "Wirtschaftssaboteure" im Knast gelandet.
Während Erika mit ihrer jungen Familie in Richtung Saalefähre floh, machten sich Vater Kurt und Mutter Erna (damals 42) ihrerseits nach Bad Dürrenberg auf. Mit der Straßenbahn ging es für beide Eltern danach weiter nach Merseburg, um schließlich per Taxi im sicheren West-Berlin zu landen.
"Wir selbst stießen in der Nacht hinzu", erinnert sich Erika an den dramatischen Verlauf. Nach ihrer nachmittäglichen Flucht vom Hof in Goddula hatten sie zunächst in der Wohnung des Taxifahrers Zuflucht gefunden.
Freundin trug Erikas Jacke am Leib
"In derselben Nacht war unser Haus schon gleich hell erleuchtet", erinnert sich die 94-Jährige: Da hätten bereits andere in ihren Räumen gesessen! Das habe ihr später der Taxifahrer erzählt.
Jene gute Seele vermittelte der Familie seinerzeit im Übrigen eine Pension in Berlin.
"Es war alles sehr schlimm", sagt Erika Ranscht noch stets sichtlich berührt. Eine Nachbarin habe sich gar aus Verzweiflung wegen der bevorstehenden Einkassierung ihres Hofes durch die 1952 gegründete landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) erhängt.
Kaum fort, sei bei ihnen selbst das Mobiliar geplündert worden. Eine ehemalige Freundin will man gar mit ihrer Strickjacke am Körper gesehen haben.
Es war ein grausames "Spiel": Großbauern im ganzen Land wurden demnach durch den Staat von Hof und Grund vertrieben, kamen sie nicht den hohen geforderten landwirtschaftlichen Abgaben nach. Dies galt auch, wenn etwa schlechtes Wetter die Ernte verdorben hatte.
"Das war Kalkül", meint Erika. Sie erklärt: "Dieser Druck zielte ganz klar auf die Abgabe großer Höfe als künftige LPG-Basisstationen zur sozialistischen Verwaltung kleiner Gehöfte ringsherum ab!"
Gutshof in Goddula schön saniert
Nach allen bedrohlichen Turbulenzen baute Erika mit ihrem Mann Achim später in Pirmasens (Rheinland-Pfalz) eine neue Existenz auf - eine Spedition mit 18 Lastkraftwagen.
Heute lebt sie verwitwet in Ludwigsburg, ihr Mann verstarb 2015 im Alter von 86 Jahren. Und inzwischen ist der stattliche 89-Hektar-Hof in Goddula auch wieder in ihrem Besitz.
"Wir hatten bei der Flucht alle wichtigen Papiere im Kinderwagen versteckt und bekamen unser Anwesen 1991 über die Grundbucheinträge zurück", schildert Erika Ranscht.
Lange habe man danach überlegt, was mit den denkmalgeschützten Gemäuern zu tun sei. Der Hof habe in Scherben gelegen.
Nachdem Ranschts die Idee eines Landgasthofs verworfen hatten, packten sie die aufwendige Sanierung an: Heute stehen 15 schmucke Wohnungen im Haupthaus und den Nebengelassen des ehemaligen Gutshofs zur Vermietung.
"Wir freuen uns, wieder hier sitzen zu können, wenn auch nur beim Besuch in der Gegend!", benennt Erika lächelnd das schöne Resultat - und scheint ihren inneren Frieden gefunden zu haben.
Titelfoto: Anke Brod