Rund 550 Betroffene weltweit: Auch Julia (5) kämpft gegen das Kleefstra-Syndrom
Mainz/Olbernhau - Wenn das Schicksal die Regie an sich reißt, wachsen manche Menschen über sich hinaus. Diese Menschen entfesseln im Moment der schlimmsten Sorge positive Kräfte, die so groß sind, dass andere noch davon zehren können.
Der gebürtige Freiberger Sebastian Ziegler (42) und seine Frau Inés sind solche Menschen. Als ihre Tochter Julia (5) die Diagnose Kleefstra-Syndrom bekam, beschlossen sie zu kämpfen. Zusammen wollen sie ihrem Kind die beste Zukunft schenken, die es jemals haben kann.
"Julia ist unser großes Baby", sagt Sebastian Ziegler (42) liebevoll, während seine Tochter ihm um die Beine streicht. Die Fünfjährige hat erst vor knapp zwei Jahren das Laufen gelernt. Ihr Gangbild wirkt tollpatschig. Sie brabbelt und Außenstehenden fällt es nicht leicht, ihre Wünsche zu verstehen. Aber wenn Mitmach-Kinderlieder erklingen, dann blüht die Kleine auf. "An guten Tagen steckt ihre Lebensfreude alle an. Dann schafft sie es, Leute zu motivieren, mit ihr zur Musik zu klatschen", berichtet ihr Vater stolz.
Julia soll nächstes Jahr in die Schule kommen. "Im Moment kann ich mir noch nicht vorstellen, dass sie einmal ohne Pflege leben kann. Aber wir geben unser Bestes, dass sie ein glückliches Leben hat", sagt Sebastian Ziegler. Er klingt dabei, als würde einen Schwur erneuern.
Seine Tochter erblickte 2018 das Licht der Welt. Julia war ein Wunschkind. Sie startete sehr, sehr ruhig ins Leben. Wenige Monate nach der Geburt spürte ihre Mutter Inés als Erste instinktiv, dass etwas das Kind in seiner Entwicklung bremst. Für die Familie begann danach eine Odyssee durch Arztpraxen und Krankenhäuser.
Die Eltern vernetzten sich international mit anderen Betroffenen
2019 bekam das Paar dann eine Diagnose in der neurologischen Klinik von Mainz, wo die Familie heute lebt. Das Mädchen hat das Kleefstra-Syndrom - ein bis dato unter Ärzten kaum bekannter Gendefekt. "Das war damals ein Schlag ins Kontor für uns", erinnert sich Sebastian Ziegler.
Noch am Abend des schicksalhaften Tages gaben sich der Kommunikations-Profi und die promovierte Biologin ein Versprechen: Wir leisten unseren Beitrag, damit dieses Syndrom erforscht wird.
Während Corona die Welt fast zum Stillstehen brachte, begann Sebastian Ziegler mit seiner Frau via Internet "Brücken" zu bauen zwischen Wissenschaftlern, Ärzten und Patienten. Das Paar vernetzte sich international mit anderen Eltern, welche Kinder haben, die wie Julia besonders sind.
Online gründeten sie eine Art Selbsthilfegruppe für deutschsprachige Familien und tauschten sich über ihre Erfahrungen, Kenntnisse und Erlebnisse aus. Außerdem knüpften sie Verbindungen zu französischen, spanischen, britischen und amerikanischen Eltern in Videokonferenzen.
Ziegler: "Für die medizinische und pharmazeutische Forschung wird ein Thema erst interessant, wenn eine bestimmte Anzahl an Diagnosen gestellt und dokumentiert wurde."
Das junge Kleefstra-Netzwerk hat sich zum Ziel gesetzt, zu vermitteln, Aufmerksamkeit zu schaffen und Fundraising für wissenschaftliche und soziale Projekte zu betreiben. Ein kleiner Engel mit blondem Flachshaar steht den Kleefstra-Familien dabei zur Seite.
Die erzgebirgische Volkskunst-Figur trägt ein violettes Herz. Die Werkstätten Flade in Olbernhau fertigen die Engel in limitierter Serie extra dafür an. Die Inhaberin der Werkstätten und Sebastian Ziegler sind einander seit über 15 Jahren freundschaftlich verbunden.
Der Exil-Sachse: "Unsere Engelchen wohnen inzwischen in vielen deutschen Städten und Ländern der Erde. Sie stiften Hoffnung, da wo sie angekommen sind."
Ein genetischer Defekt
Das Kleefstra-Syndrom ist ein noch relativ unerforschter genetischer Defekt. Eine Veränderung im sogenannten EHMT1-Gen (Eucromatin-Histon-Methyltransferase) verursacht sie.
Menschen, die mit diesem Syndrom geboren wurden, sind in ihrer neurologischen Entwicklung beeinträchtigt. Sie leiden in unterschiedlichem Maß unter intellektuellen Defiziten, mangelnder Muskelspannung, Sprachstörungen, Autismus und anderen Krankheitsbildern.
Weltweit sind nur rund 500 Fälle erfasst. Experten schätzen aber, dass es auf der ganzen Erden wohl etwa eine Million Menschen gibt, die mit diesem Syndrom leben.
Kathrinchen Zimtstern hilft
Als Student der Hochschule Mittweida absolvierte Sebastian Ziegler vor fast 20 Jahren ein Auslandssemester in Spanien. Fern der Heimat küsste ihn im Advent die Muse und er schrieb unter dem Pseudonym Bastian Backstein das Kinderbuch "Kathrinchen Zimtstern".
Es erzählt davon, wie der junge Nussknacker Johann Knatterburg und der alte Räuchermann Arthur Grimmbart ein Engelchen suchen und dabei durch Europa reisen.
In Kooperation mit den Olbernhauer Werkstätten Flade und weiteren Kunsthandwerkern aus dem Erzgebirge konnte das Buchprojekt Erfolge einheimsen. Inzwischen gibt es davon nicht nur drei Bände, sondern auch ein Musical.
Die Inhaberin der Werkstätten Kerstin Drechsel-Flade rief zudem dem Fond "Kathrinchen Zimtstern hilft" ins Leben.
Titelfoto: privat