Experte erklärt: Deshalb war die Wahlbeteiligung in NRW niedrig wie nie
Düsseldorf – Die historisch niedrige Beteiligung an der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ist nach Ansicht eines Politologen auf eine mangelnde Mobilisierung der Bürger und auf die Kandidaten zurückzuführen.
Auch wenn die Gründe für die extrem niedrige Beteiligung dem Politologen Klaus Schubert zufolge schwer einzuschätzen sind, hat es nach seiner Ansicht nicht an einer allgemeinen Wahlmüdigkeit gelegen. "Sie ist spezifisch auf den Wahlkampf der Parteien und auf die Kandidaten zurückzuführen", sagte der Politik-Professor der Uni Münster der Deutschen Presse-Agentur am Montag.
Vor allem die SPD habe ihre Klientel schlecht mobilisieren können. Womöglich sei es hier auch ein Fehler gewesen, dass SPD-Spitzenkandidat Thomas Kutschaty (53) gegen Ende des Wahlkampfes noch Bundeskanzler Olaf Scholz (63, SPD) eingebracht habe.
Scholz werde von manchen als "eher schwach und wenig entscheidungsfreudig" angesehen. "Das mag einige aus der SPD-Klientel abgehalten haben, abzustimmen", meinte Schubert in einer ersten Analyse kurz nach der Landtagswahl.
Nach Angaben des Landeswahlleiters fiel die Wahlbeteiligung mit nur 55,5 Prozent auf den niedrigsten Stand überhaupt bei einer Landtagswahl in NRW. 2017 hatten noch 65,2 Prozent der Wähler ihre Stimme abgegeben, bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 waren es 76,4 Prozent.
Politologe sieht Koalition als "nicht vorstellbar" an
Die FDP brauche laut Schubert ebenso "einen neuen Leitstern". Früher sei über Jahre hinweg der derzeitige Bundesfinanzminister Christian Lindner (43) als Fraktions- und Parteichef der NRW-FDP Zugpferd gewesen, sagte der Politikwissenschaftler.
Für den aktuellen Landesparteichef und FDP-Spitzenkandidaten Joachim Stamp (51) seien diese "Schuhe zu groß" gewesen. Aktuell wirke die NRW-FDP "ratlos und orientierungslos".
Grundsätzlich hält Schubert zwei Bestrebungen aus FDP-Sicht für denkbar, um aus dem Tief herauszukommen: In die Opposition gehen, um sich fünf Jahre inhaltlich und personell neu aufzustellen. "Oder die FDP versucht sich in eine Ampel-Koalition zu retten, um so wieder Tritt zu fassen."
SPD-Parteichef Kutschaty schließt trotz starker Verluste auch für die Sozialdemokraten eine Ampel mit Grünen und FDP nicht aus. Sehr viel wahrscheinlicher sei allerdings eine schwarz-grüne Regierung.
Eine große Koalition hält Schubert für "nicht vorstellbar."
FDP-Ergebnisse haben laut Partei auch bundespolitische Gründe
Die FDP sieht für ihre schweren Verluste bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen auch bundespolitische Gründe. Zu dem "dramatischen Einbruch" bei den über 60-Jährigen habe die große Unzufriedenheit mit der Energiepreispauschale beigetragen, sagte der Bundesvorsitzende Christian Lindner am Montag in Berlin.
Im Straßenwahlkampf sei immer die Frage gekommen, warum es die Einmalpauschale von 300 Euro nicht auch für Rentner gebe. "Obwohl es gar nicht unser eigenes Modell war, auch nicht unser Projekt, ist das in besonderer Weise auch mit der FDP in Verbindung gebracht worden."
Die Kommunikation dieser Gerechtigkeitsfrage im Gesamtpaket der Entlastungen sei nicht gelungen, sagte Lindner. "Daraus müssen wir auch für künftige politische Projekte der Koalition in Berlin unsere Konsequenz ziehen." Der FDP-Chef betonte, die Ampel-Koalition sei nie der "politische Wunschtraum" der FDP gewesen.
"Wir regieren in der Ampel aus staatspolitischer Verantwortung, weil CDU und CSU nach der Bundestagswahl nicht willens und in der Lage waren, eine Regierung zu bilden." Daran habe sich nichts geändert. Zudem herrsche jetzt Krieg in Europa und die Wirtschaft befinde sich in einer riskanten Lage.
FDP weiß: "Im Zentrum steht jetzt das Land"
Die FDP müsse zwar ihre Probleme aufarbeiten. Im Zentrum stehe aber das Regierungshandeln. "Wir haben gegenwärtig keine Zeit und keinen Raum, uns vertieft mit uns selbst zu beschäftigen, solange es Krise und Krieg gibt", sagte Lindner. "Im Zentrum steht jetzt das Land und nicht kleine oder größere Geländegewinne für die FDP."
NRW-Spitzenkandidat Stamp sprach von einem "ausgesprochen bitteren Abend" und sagte voraus: "Wir werden jetzt in Nordrhein-Westfalen eine schwarz-grüne Koalition bekommen. Es ist klar erkennbar, dass die CDU bereit sein wird, auch für die Wahl des Ministerpräsidenten viele Inhalte zu opfern."
Es gebe einen "klaren Regierungsauftrag für CDU und Grüne". Das sei nach seinem Eindruck inzwischen auch bei SPD-Herausforderer Thomas Kutschaty angekommen. "Deswegen rechne ich nicht mit einem Anruf."
Kutschaty hatte sich Hoffnungen gemacht, trotz des großen Vorsprungs der CDU eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP bilden zu können. "Die Ampel in Nordrhein-Westfalen hätte doch gar keine innere Legitimation", sagte dazu Lindner. Das sei im Bund anders gewesen, wo es außer der Ampel keine Option stabilen Regierens gegeben habe.
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