Lost Places: Schaurig-schön und gefährlich zugleich
Kronach - Bröckelnder Putz, kaputte Fensterscheiben: Verlassene Orte sind ein beliebtes Ausflugsziel für Hobby-Fotografen. Auf sozialen Netzwerken generieren Bilder von alten Fabriken oder früheren Waisenhäusern viele Klicks. Doch der nicht nur in Deutschland überaus beliebte Trend hat auch eine Schattenseite - er ist mitunter sehr gefährlich.
Die Totenbahre im staubigen Raum ist leer. Über einem Stuhl hängt der Kittel eines Bestatters - als hätte er nur mal eben den Raum verlassen.
Dabei sind Jahrzehnte vergangen, als der letzte Tote in dieser Leichenhalle in Brandenburg gewaschen wurde. Durch die Gänge irren seither nur noch vereinzelt Fotografen, so wie Jeannette Fiedler.
Die 49-Jährige aus der Nähe von Kronach in Franken reist seit rund fünf Jahren regelmäßig an verlassene Orte, sogenannte Lost Places.
Für Aufnahmen stapft die Frau aus Bayern durch Morast oder klettert in Stollen, knipst in früheren Gefängnissen, Schulen, Krematorien oder verlassenen Schwimmbädern.
Es sind Orte, die einst belebt waren. Orte voller Geschichte. Orte, perfekt für besondere Fotos.
"Wir wollen als Fotografen den Verfall in Kunst transferieren. Wollen die Schönheit des Vergehenden herausarbeiten", beschreibt Fiedler ihr Hobby, das sie mit Menschen auf der ganzen Welt teilt. "Urbexer" nennen sich die Anhänger dieses Trends, die den morbiden Charme verfallener Gebäude auf Fotos festhalten.
Die Bilder werden auf sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram unter dem Hashtag #lostplaces gepostet. Auf den Fotos bröckelt oft der Putz von den Wänden, dicker Staub wölbt sich auf den Treppen, Fenster sind eingeschlagen, es sieht aus wie in Gruselfilmen oder Mystery-Serien, manchmal posieren gar auch Halbnackte vor den entsprechenden Ruinen.
Letzteres "verpöne" die Gruppe, in der Fiedler verkehrt. Ihre Gemeinschaft führe die Neugierde, geschichtliches Interesse und die besondere Atmosphäre und Ästhetik an verlassene Orte. Offensichtlich tummelt sich in den sozialen Netzwerken eine weitere Gruppe. Ihre Ambition scheint zu sein: der Reiz des Verbotenen, der Kick - oder die Klicks.
Viele der brachen Gelände gehören privaten Eigentümern und das Betreten ist ohne deren Zustimmung nicht erlaubt. Rechtlich gesehen balancieren die Besucher am Rande der Legalität und könnten wegen Hausfriedensbruchs belangt werden.
"Manche sind nicht nur mit der Kamera unterwegs, sondern führen auch Werkzeug mit – um sich mit Gewalt Zutritt zu verschaffen", erzählt Fiedler. Dabei gelte der Grundsatz: nicht einbrechen, nichts kaputt machen, nichts stehlen.
Trend um Lost Places: Unfälle überschatten das gefährliche Hobby
Immer wieder meldet die letztlich zuständige Polizei Unfälle auf verlassenen Geländen: Im Juni stürzte ein 18-Jähriger in der Ruine eines Guthofs im unterfränkischen Landkreis Kitzingen durch eine marode Betondecke circa drei Meter in die Tiefe und verletzte sich schwer. Es war ein Horror-Unfall.
Ebenfalls schwer verletzt wurde ein 34-Jähriger im Februar in Erfurt. Nach einem Sturz landete er auf einer Metallplatte mit herausstehenden Schrauben.
Vor drei Jahren musste in Leipzig ein damals 30-Jähriger knapp zwölf Stunden schwer verletzt und bei Minusgraden in einem Schacht ausharren, weil er zuvor ein Loch in einer seit über zwanzig Jahren leer stehenden Bowlinghalle übersah.
Ein tragischer Unfall ereignete sich Mitte Juli in Nordrhein-Westfalen: Eine 22-Jährige aus dem Raum Köln wollte sich mit zwei Freunden offenbar die Industrie-Ruine im Bochumer Westpark ansehen. Bei dem nächtlichen Besuch brach die junge Frau zusammen. Einsatzkräfte mussten mit Motortrennschleifer, Bolzenschneider und einem Spreizgerät die Zäune und die Stacheldrahtbahnen entfernen und konnten die Frau erst nach mehreren Stunden bergen.
Sie wurde wiederbelebt - starb kurz danach aber im Krankenhaus. Sie war nicht der erste Todesfall in diesem Industriepark.
Die Feuerwehr, die bei der Bergung im Juli in Bochum beteiligt war, hat in einem Video öffentlich vor Lost Places gewarnt: Nicht nur die maroden Industrieanlagen seien gefährlich, sondern auch Atemgifte, die auf den ersten Blick nicht sichtbar seien.
Fiedler betritt Gelände und Gebäude nach eigenen Worten grundsätzlich nur, wenn sie offen stehen oder leicht zugänglich sind. Sie ziehe nie alleine los und hole sich mittlerweile eine Genehmigung oder buche eine Tour. Denn auch Anbieter haben die verlassenen Orte und den neuen Markt dahinter entdeckt, bieten legale Foto-Touren an.
Auf Plattformen wie YouTube verbreiten sich Videos über Lost Places viral. Hunderttausende Aufrufe hat etwa die Aufnahme eines bekannten YouTubers (ItsMarvin) über ein seit zehn Jahren verlassenes Krankenhaus in Büren bei Paderborn. Darin ist zu sehen, wie er mit einem Begleiter Patientenakten findet. Die Polizei nahm in dem Fall eine Strafanzeige wegen des Verdachts auf Hausfriedensbruch auf. Der YouTuber sprach davon, einen Datenskandal aufgedeckt zu haben.
Die Fotogemeinschaft, in der Fiedler verkehrt, distanziert sich deutlich. "Wir betreten die Räume still, achtsam und mit Respekt. Wir fassen nie etwas an, und allein unsere Eindrücke, Erinnerungen und Bilder nehmen wir mit."
Titelfoto: Jeannette Fiedler/dpa