Von Niklas Treppner
Demmin (Mecklenburgische Seenplatte) - Wenige Tage vor Ende des Zweiten Weltkriegs verlieren in der Stadt Demmin in Mecklenburg-Vorpommern viele den Lebenswillen - Hunderte bringen sich und zum Teil auch ihre Kinder um.
"Sie können sich die Sache gar nicht apokalyptisch genug vorstellen", sagt der Historiker Florian Huber. Auch 80 Jahre später beschäftigt viele die Frage, wie es zu dem beispiellosen Massensuizid ab dem 30. April kommen konnte.
Der Krieg war an der Stadt fast komplett vorbeigezogen. Doch im April näherte sich aus dem Osten die zweite Weißrussische Front, ein großer Teil der Roten Armee. Die Soldaten der Wehrmacht gaben Demmin auf und flohen zusammen mit dem Bürgermeister, Funktionären und Beamten der Stadt Richtung Westen.
Bei ihrem Abzug sprengten sie die Brücken und ließen die Zivilbevölkerung zurück. Auch um ihre eigene Flucht zu erleichtern, erklärt Historiker Huber. Demmin - umgeben von drei Flüssen - wird zur Halbinsel. "Fliehen ging eigentlich nicht mehr, es sei denn in die Richtung der Roten Armee", sagt Huber.
Doch vor den sowjetischen Soldaten hatten die Menschen panische Angst. Sie fürchteten Rache, Misshandlung und Vergewaltigung. Die "Hysterie", wie sie ein Zeitzeuge später beschreibt, trieb viele in den Suizid, noch bevor die Rote Armee die Stadt erreicht hatte.
"Dann aber auch die tatsächlich erlebte Gewalt, die es gegeben hat, die viele Frauen nach einer Vergewaltigung zum Selbstmord getrieben hat", sagt Huber.
500 bis 1000 Tote: Traurige Geschichte von Demmin in DDR ausgeblendet
Zur Wahrheit gehört laut Huber auch, dass es zahlreiche Berichte von sowjetischen Soldaten gebe, die Bewohner aus den Flüssen zogen oder Menschen mit aufgeschnittenen Pulsadern ins Krankenhaus trugen.
Wie viele Menschen in diesen Tagen genau starben, ist bis heute unklar. Zwischen 500 und 1000 Tote, so schätzt man, gab es in Demmin, das damals 15.000 Bewohner hatte.
Als Guido Fröschke von den tragischen Ereignissen in Demmin erfuhr, sei er sauer gewesen, sagt er. Fröschke wuchs in Demmin auf, lernte dort seine Frau kennen und zog mit ihr in der Stadt später Kinder groß. Doch von dem, was am Ende des Zweiten Weltkriegs in seiner Heimatstadt passiert war, erfuhr er erst nach der Wende.
In der DDR wurde das Thema ausgeblendet, um dem Ansehen der Sowjetunion nicht zu schaden. "Im Geschichtsunterricht haben sie uns das nicht erzählt", sagt Fröschke. Auch seine Eltern hätten ihm nie etwas gesagt.
Rechtsextremisten missbrauchen Geschichte von Demmin für Propaganda
Dass die Geschichte Demmins so lange nicht aufgearbeitet worden sei, habe Rechtsextremen ermöglicht, sie für ihre Zwecke zu missbrauchen, meint Fröschke. "Die haben das Thema aufgegriffen und haben es genutzt, um dann eben Werbung für ihre Ziele zu machen und ihre Geschichtsauffassung", sagt er.
Seit Jahren ziehen am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, Rechtsextreme durch die Stadt an der Peene und lassen einen Kranz in den Fluss. Für Huber sind die Absichten der Demonstranten dabei eindeutig: "Das ist für mich eine ganz infame Instrumentalisierung eines Ereignisses, das Sie eigentlich nicht wirklich interessiert." Es gehe ihnen darum, sagen zu können: "Die Deutschen waren auch Opfer."
Fröschke gründete als Reaktion auf die sogenannten Trauermärsche der rechtsextremen Szene das "Aktionsbündnis 8. Mai Demmin" mit. Das Bündnis organisiert seit 2007 die Gegendemo. Für sie gebe es keine Wertigkeit der Opfer.
Fröschke betont: "Die Deutschen haben den Krieg angefangen, der Krieg kam nach Demmin zurück." Auch wenn mittlerweile viel mehr Menschen gegen die rechte Szene auf die Straße gingen, würde sich Fröschke wünschen, dass darunter auch mehr Bewohner Demmins sind.
Normalerweise berichtet TAG24 nicht über Suizide. Da der Vorfall aber in einem historischen Zusammenhang steht, hat sich die Redaktion entschieden, es zu thematisieren.
Solltet Ihr selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, bei der Telefonseelsorge findet Ihr rund um die Uhr Ansprechpartner, natürlich auch anonym. Telefonseelsorge, bundeseinheitliche Nummer: 08001110111 oder 08001110222 oder 08001110116123.